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#kalt und warmlicht
fabiansteinhauer · 8 months
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Polarforschung
1.
Die Tafelszene ist älter als die Schreibszene. Das Tafeln ist älter als das Schreiben. Die Rechtswissenschaft beginnt nicht im 19. Jahrhundert mit Savignys Text über den Beruf unserer Zeit. Savigny beginnt den Beruf nicht und nicht unsere Zeit, als er den Text anfangen lässt. Und doch ist das ein grundlegender Text geworden.
Savigny, wie so viele, hat auch eine medienhistorisch informierte Theorie des römischen Rechts. Die begriffliche Systematik soll danach ein spätere Erscheinung sein. Das archaische römische Recht zeichne sich eher durch das aus, was Savigny in diesem Text ein symbolische Handlung nennt und als Formel, Akt, Protokoll oder Zeremonie beschreibt, Dazu ist die mancipatio ein Beispiel.
Sie ist actio und dabei ein Akt der aus Akten besteht, zum Beispiel aus Sprechakt, denn die Formel ist teilweise ein Satz, und aus Bildakt, denn Gaius nennt sie in den Institutionen ein Bild (imago) , und das kann mehrere Gründe haben. Bild ist die mancipatio, weil sie vor- oder aufgeführt wird, sie soll vor Zeugen stattfinden; sie ist aber auch mimetisch, sie ahmt ältere 'Übertragungsformen' nach, sie ist copia und darin sogar industria, sie ermöglicht blühende Geschäfte.
Die mancipatio ist auch ein choreographischer Akt, mehr als eine Person ist in sie involviert. Savigny ordnet solche Akte einer noch begriffs- und systemarmen, aber strengen, archaischen und - mit romantischen Zügen - einer ursprünglicheren Zeit zu. Die romantische Institution ist nach Koschorke eine Beamtenkarriere, die auf dem Land beginnt und in der Stadt endet. Sie kreuzt vom Pastoralen ins Urbane, über Linien, die Vismann Aktenakte nennt und die Mommsen vorgeschoben nennt. Sie kreuzt aus Schäferstündchen in Sprechstunden des Justizministeriums, zumindest bei Savigny. Sie kreuzt Tag und Nacht, nie ohne Linien, nie ohne Wellen.
2.
Die symbolische Handlung wird 1896 das Stichwort für die Gespräche, die Sally George Melchior mit Aby Warburg auf der kleinen Kreuzfahrt führen und die Warburg später als Teil seiner Arbeit zu den grundlegenden Bruchstücken begreift. Er notiert alles auf Zetteln. Kurz nach der Kreuzfahrt überträgt er einige Zettel, die er bereits seit einigen Jahren sammelte, in ein Geschäftsbuch. Er sammelt sie aus seinen Zettelkästen zusammen, sie kommen in einen eigenen Zettelkasten, dann werden sie das erste mal in einem Geschäftsbuch in gebundener Form verbunden.
1896 kommt Warburg also nicht nur aus Amerika zurück, er macht auch eine zweite Reise, weniger bekannt und kleiner als die erste, spricht mit einem Juristen und fängt ein neues Buch an, erstmal ein Geschäftsbuch. Warburgs Wissenschaft, seine Polarforschung ist aus dem Geist römischer Kanzleikultur, sie ist aus dem Geist des tab(u)linums, des tabulatoriums, der notitia dignitatum, aus dem Geist des Kalenders des Filocalus (den man im Mnemosyne Atlas findet). Seine Polarforschung ist aus dem Geist skalierbarer Tafeln und Tabellen, aus dem Geist dessen, was Vismann Akten nennt. Das ist aus dem Geist eines Wechselgeschäftes, das nicht nur Geld wechselt, sondern auch Truppenkörper gliedert und organisiert. Das ist aus dem Geist eines vexillums, das staatlich sein kann, aber nicht staatlich sein muss. Das kann ein hoher Geist, es kann ein niederer Geist sein. Warburg entfaltet diesen Geist in einer privaten Praxis öffentlicher Dinge, also kreuzend, unter anderem auf Kreuzfahrten.
So entstehen die grundlegenden Bruchstücke, deren Texte zwar teilweise vor 1896 entstanden, aber in diesem Jahr erst 'verbucht' in Geschäftsbuchform übernommen werden. Melchior und Warburg sprechen über die mancipatio, das ist die symbolische Handlung, der Akt, die Formel, das Protokoll oder die Zeremonie, über die sich beide austauschen.
3.
Als Aby Warburg 1923 seinen Vortrag über die Amerikareise hält und Saxl ihn in diesem Jahr fragt, wen man in die Bibliothek zu einem Vortrag einladen solle, regt Warburg an, Conrad Borchling einzuladen. Der Germanist wird über Rechtssysmbolik im Germanischen und Römischen Recht sprechen. Der Vortrag wird 1926 in Vorträge der Bibliothek Warburg 1923/1924 veröffentlicht.
Das kann man als die zweite Auseinandersetzung zwischen Warburg und der Rechtswissenschaft begreifen. Warburg lädt ein, ein Rechtswissenschaftler kommt, wie damals auf dem Schiff, wie damals nach den Schlangen, kurz danach.
Inzwischen war einiges passiert, auch ohne solche Gespräche oder Auseinandersetzungen. In Florenz hat Warburg zu Bildrechten der Sassetti und Tornabuoni geforscht, Testamente und Urkunden über Patronatsrechte studiert und dann später die Ergebnisse publiziert. In Ferrara hat er zur Verwaltung und zu Kalendern geforscht, dazu in Rom vortragen und ist so zum Star geworden. 1923 ist er schon der anerkannte, bekannte und berühmte Autor einer Bild- und Rechtswissenschaft, die ihr Objekt nicht als Ergänzung oder als ergänztes Objekt versteht, auch wenn das noch nicht und nie alle verstehen und Warburg weiter polarisiert. Warburgs Objekt ist spätestens seit 1912 schon das Polobjekt, unbedingt, aber nicht unbedingt mehr ein Bild oder ein Recht, auch wenn das Objekt in das kippen, sich in das wenden und in dem winden kann, was ein oder was das Bild, was ein Recht oder sogar das Recht sein kann.
Das Objekt kann sich aber weiterdrehen und herauswenden oder herauskippen aus dem, was ein oder das Bild, was ein oder das Recht ist. Warburg ist inzwischen Polarforscher geworden und arbeitet an dem, was man mit Niklas Luhmanns Worten zur Frage nach der Stabilität und dem Gleichgewicht eine vague Assoziation nennen sollte. Nur dass Warburg als Polarforscher auch nicht unbedingt aus Stabilisierung und Gleichgewicht zielt oder darauf, das Inkommensurable nicht im System, sondern der Umwelt zu verorten. Warburg zielt eher auf Bewegung und darauf, Polarisierung und Polarität wahrnehmen, auch (aus-)üben oder mitmachen zu können. Warburg zielt auf Routinen eines Mitmachens oder einer Kooperation, die da, durch Polarisierung und Polarität hindurch, noch Distanz schaffen können. Kn der Polarisierug und der Polarität heißt das aber nicht nur, Trennung zu vergrößern, sondern auch zu vermindern, Austausch zu vergrößern und Austausch zu vermindern.
3.
Die Bibliothek lädt Borchling ein, Borchling kommt. Borchling ist Germanist, kein Romanist. Der fängt seinen Vortrag nicht mit der mancipatio und den Römern an. Aber immerhin fängt er ihn mit symbolischen Handlungen an, das ist sein Gegenstand. Er fängt mit Handschuhen und in Frankfurt, mit Goethe und seinen, das sind in dem Fall auch dessen, Erinnerungen an. Borchling schildert einen Akt, in dem Fall eine 'wiederholende Szene', sie stammt aus Goethes Dichtung und Wahrheit. In der Szene kommt viel vor, auch das ist ein Akt, der aus Akten besteht, aus Sprech- und Bildakten, auch choreographischen Akten. Borchling pickt aber den Handschuh, besonders den Handschuh heraus. Wenn er es nicht mit der mancipatio assoziiert hat, explizit sieht man davon keine Spur, dann tun wir das jetzt. Borchling setzt von Rom nach Frankfurt über, er übersetzt etwas, aus der mancipatio wird ein Handschuh. Vom Handschuh aus kommt Borchling aber ebenfalls auf Geschichte zu sprechen, in der das andere älter seials das eine. Und so kommt Borchling af Stäbe zu sprechen.
Führen uns die Handschuhe in das Hochmittelalter, die Zeit des ausgebildeten Lehnswesens, so geht das den Handschuhen beigegebene weiße Stäbchen noch sehr viel weiter in die Vergangenheit zurück.
Der Stab ist älter als der Handschuh. Borchllng wird in der Bibliothek unversehens zum Polarforscher, zum Stabforscher. er insisitiert darauf, dass der Stab, den Goethe noch einen Gerichtsstab nennt, nicht als Gerichtsstab anzusehen wäre. Anders gesagt: Als Gerichtsstab ist dieser Stab nicht kreditierbar, nicht anzusehen. Er sah als Botenstab anzusehen schreibt Borchling. Das Bieten ist älter als das Richten. In dem Vortrag findet sich wenig bis keine Spuren für Schmeichelei. Ob Borchling kam, um den Gastgebern vorzutragen, was sie hören wollten, was ja nicht verwerflich wäre, nur Routine und Protokoll, das lässt sich schwer sagen, ich würde sagen: kaum. es kann also sein, dass Warburg zwar inzwischen sich in einen Polarforscher verwandelt hat, aber damit auch nicht besonders weit kam, sich zumindest nicht weit von er Rechtswissenschaft entfernte. Was nach einem Warburgschen klingt, weil Borchling schnell auf das Wandern und die Stäbe zu sprechne kommt, also auf Objekte, durch die Bewegung geht, das muss nicht eingeflüstert sein, das muss kein vorauseilender Gehorsam von Borchling gewesen sein. Das kann sein, für Gehorsam soll Borchling durchaus aus Sinn gehabt haben. Man sollte ihm einfach zutrauen, dass er weiß was er tut und will, was er tut. Ich ist ein Anderer, aber kein total Anderer. Borchling ist anders als Warburg, aber nicht total anders.
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