Man fürchtete den Lindwurm, wie man später den Teufel fürchtete und noch später den Binärcode, man fürchtete ihn, weil er allem Weltlichen ein übermächtiger, aber greifbarer Gegenspieler war. Man wagte es, ihn zu fürchten, weil man die Furcht vor ihm verstand.
Einem Menschen zu begegnen, der weder Lindwurm, noch Teufel, noch Binärcode fürchtet, heißt, einem Lügner zu begegnen.
Es würde uns wahnsinnig machen, ins Getriebe der Welt zu blicken und darin nichts als nackte Mechanik zu finden. Es braucht das Organische, das die Apokalypse in Zärtlichkeit bettet.
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Apokalypse ohne Pointe
I. Geryon
»Aller Glaube sei Täuschung, wusste die Schlange zu sagen, und alles Wissen schlicht Deutung des Sichtbaren.«
Er schrieb das Chaínein nicht aus Boshaftigkeit oder Amoral, sondern infolge einer inneren Zerrissenheit, eines archaischen Schmerzes. Der Entstehungszeitraum des Werkes umfasste ein knappes Jahr und man konnte, wenn man mit der Kunst der literarischen Interpretation vertraut war, in manchen Zeilen den Winter lesen, unter dem er gelitten hatte, und in anderen fand sich die sengende Hitze der Julisonne. Denkbar, dass eine günstige Fügung ihn an der Fertigstellung gehindert hätte, denn, und daraus machte er selbst in seinen Ausführungen keinen Hehl, bisweilen konnten Nuancen den Lauf der Menschheit ins Gegensätzlichste umkehren. Der Mensch sei unvollkommen, schrieb er an einer Stelle, unvollkommen schon im Körper, dessen widersinnige Anatomie ihn an den Planeten fessele, und hundertfach unvollkommener im Geiste, dass selbst der schlichteste Geselle noch zum Narzissten werden könne. Man müsse sie bedauern, die armen Seelen, führte er aus, die im Glauben, über allem zu stehen, nicht einmal sich selbst begriffen.
Im Wesentlichen aber befasste sich das Chaínein mit dem Ursprünglichen, mit der Herkunft. Ausformulierte Leugnung der Wissenschaft war darin nicht zu finden, es herrschte gar eine versöhnliche Akzeptanz von Theorien über einstige Singularität und gegenwärtige Entropie. Das Unwissen, schrieb er an anderer Stelle, könne man als Tor in die Freiheit betrachten, als Pforte zum Paradies, wenn man so wolle. Denn das wahrhaftige Paradies, ein theistischer Garten Eden, ließ sich nicht verneinen. Es sei ein Leichtes, ihn zu finden, es sei alles eine Frage der Bereitschaft, sich hinzugeben. Man könne Eden mit der Liebe vergleichen, die im selben Maße allumfassend wie irrational sei. Bei gesundem Menschenverstand – beziehungsweise dem, was man als solchen bezeichnete – gäbe es keine höhere Bedeutung der Liebe zu entdecken, sie sei schlicht Ablenkung vom Chaos zwecks Steigerung des eigenen Wohlbefindens. Liebe, schrieb er, sei, obwohl sie in der Regel mehr als einen Menschen betreffe, maßlos egoistisch, eine gesellschaftlich glorifizierte Form des Eskapismus, eine Flucht in ein alternatives Paradies, und mit der Sinnlosigkeit des religiösen Glaubens in der Konsequenz deckungsgleich. Wer liebte, sei schuldig. Vorwerfen könne man diese Schuld jedoch niemandem, denn wer sich der Liebe oder dem Theismus entzog, geriet in die Fänge des Rationalismus, der wusste um sein Unwissen, und das war, was den Menschen zerstörte.
Er schrieb das Chaínein in erster Linie, um diesem ihm eigenen Rationalismus auf eine neue Weise zu begegnen, ihn zu konfrontieren, zeitweise sogar in der aussichtslosen Hoffnung, ihn zu torpedieren. Die Nächte verbrachte er mit geröteten Augen vor dem Schreibgerät, dokumentierte Wahrheiten und ergänzte sie um Ahnungen. Er stellte die Frage, was zu fürchten sei, während die Furcht seine Brust zuschnürte, und kam zu folgender Erkenntnis: In einem unendlichen Raum, der für eine unendliche Zeit existierte, gäbe es eine unendlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass alle Atome, die zu irgendeinem Zeitpunkt seine Geburt herbeigeführt hatten, sich unendlich oft in derselben Konstellation wiederträfen, sodass ihm eine unendliche Anzahl neuer Leben bevorstünde. In unendlich vielen davon ergäbe sich dabei eine Gehirnstruktur, die es ihm verunmöglichte, von seinen vorherigen Existenzen zu wissen, in unendlich vielen anderen hingegen hätte er Zugriff auf sämtliche Erinnerungen. Somit müsse man annehmen, der Tod sei tatsächlich bloß vorübergehend, erwartbar sei eine Wiedergeburt alle paar Zentillionen Jahre. Es gab damit eine wissenschaftlich belegbare Aussicht auf Reinkarnation.
Das Chaínein aber, schrieb er, könne sich kaum mit dieser unvorstellbaren Zeitspanne befassen und sei damit in Hinblick auf das dem gegenwärtigen Menschen bekannte Universum nur eine Momentaufnahme, die den winzigen Zeitraum von der Entstehung vor zirka 14 Milliarden Jahren bis zum Untergang in zirka zehn Sexdezilliarden Jahren abdecke. Große Teile des Inhalts, warnte er bereits im Vorwort, umschlössen gar eine noch kürzere Zeitspanne, nämlich jenen galaktischen Wimpernschlag, in welchem unsere heutige Erde die Sonne umzirkele.
Niemand aus dem kleinen Kreis derer, die ihn gelegentlich kontaktierten, konnte ahnen, dass er ein derart monumentales Werk verfasste. Nachdem er für die Dauer eines ganzen Winters die Haustür nur mehr geöffnet hatte, um Einkaufslieferungen entgegenzunehmen, erreichte ihn die besorgte Nachricht eines alten Freundes, der um sein Wohlbefinden wissen wollte. In diesen Tagen unterbrach er sein fanatisches Arbeiten erstmals und geriet in einen Zustand des Zweifelns. Sein Wohlergehen, sinnierte er, war zur Nebensächlichkeit geworden. In früheren Jahren hätte er auf diese Feststellung einen Lebenswandel folgen lassen, aber nach allen philosophischen und nihilistischen Auswüchsen, die seine Denkprozesse in den vergangenen Monaten durchlaufen hatten, sah er sich der Lebensfreude nicht mehr würdig. Er ließ die Nachricht daher unbeantwortet und stürzte sich nach einer knappen Woche der Lethargie, in der er kaum aß oder trank, wieder in sein Manuskript, das mittlerweile mehrere hundert Seiten umfasste.
Es brach bald der Frühling an, den er durch sein Fenster nur in den Abendstunden wahrnahm, wenn das Licht der sinkenden Sonne ihm in die Augen stach. Das unsägliche Flanieren setzte bald ein, erst waren es die Alten, die unentwegt das Haus passierten, später die Verliebten, die bisweilen innehielten und lebhaft zu diskutieren begannen, ob man den Eigentümer der stattlichen Immobilie wohl jemals zu Gesicht bekäme. All dies drang nur sehr gedämpft an sein Ohr, doch mehr als einmal musste er sich dem inneren Bedürfnis widersetzen, in diesen Momenten ans Fenster zu treten und voll Verachtung auf die Menschen herabzublicken, die dort standen und sprachen und liebten, als hätten sie die Sorglosigkeit aus Schüsseln gefressen. Dann erhob er sich von seinem Stuhl, seine Beine kribbelten, als das Blut sie nach Tagen des Sitzens durchströmte, er zitterte und bebte, er spürte die Flügel seine Rückenhaut durchstoßen, er spürte zum Skorpionschwanz seine Wirbelsäule sich verlängern, er spürte den unbändigen Zorn auf die Menschen erwachen, die sich selbst und die Welt betrogen. Als Geryon wollte er auf sie niederstürzen, sie zerfleischen, ihre Körper in Stücke reißen, aber sein Werk war noch nicht vollendet. Er schnaubte und tobte und der Hunger, dieser unbändige Hunger, wollte ihm den Magen und das Herz zerfetzen.
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