Linke streben keine ânatĂŒrlicheâ Gesellschaft an, sondern eine befreite
Offener Brief von (ehemaligen) Autor*innen der Jungle World gegen die fehlende Abgrenzung von transfeindlichen Ressentiments in der Zeitung
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Als Autor*innen der Jungle sind wir es gewohnt, dass unsere Texte neben anderen erscheinen, mit denen wir nicht einverstanden sind oder die uns nerven. In der Frage der Transgeschlechtlichkeit wird aber in der Jungle regelmĂ€Ăig eine Grenze fĂŒr uns ĂŒberschritten. Es kann nicht sein, dass linke Zeitungen Inhalten Raum geben, die sich nur in Nuancen von der Hetze erklĂ€rter Antifeminist*innen unterscheidet. Statt Parteinahme fĂŒr ohnehin Ausgegrenzte sehen wir einen regressiven Pseudo-Materialismus und den Unwillen, Transfeindlichkeit als politisches Querfrontprogramm zu erkennen. Die Argumentationen in den transfeindlichen Texten der Jungle World sind keine solidarische Kritik, geschweige denn BeitrĂ€ge zu einem emanzipatorischen Diskurs. Sie bedienen lediglich sattsam bekannte Ressentiments, die bisweilen von den selben Autor*innen beinahe wortgleich in rechten Medien wie der âWeltâ oder dem âCiceroâ wiederholt werden.
Ausgaben wie die Jungle World 05/23, die den âweltweiten Hass gegen LGBTQ-Personenâ zum Hauptthema machte, bilden die Ausnahme. In der Regel werden nicht die systematischen Angriffe und die Gewalt gegen queere Menschen zum Gegenstand der Kritik, sondern deren IdentitĂ€t.
Zahlreiche Texte, die vor allem im âDschungelâ erschienen sind, bedienen die Ideologie genau jener KrĂ€fte, ĂŒber die in Ausgabe 05/23 geschrieben wird. Ihre Argumentation hat stets einen Ă€hnlichen Klang: Queere und transgeschlechtliche Aktivist*innen seien irrational, kritikunfĂ€hig, verblendet, im schlimmsten Falle gar frauenfeindlich und gewalttĂ€tig. Gleichzeitig wird mit transfeindlichen Akteur*innen und Politiken irritierend sorglos umgegangen.Â
Dabei ist transfeindliche Gewalt weltweit auf dem Vormarsch. Mitte Februar 2023 wurden in den USA bereits 150 Gesetzgebungen eingereicht, die sich speziell gegen trans Personen richten, so die Menschenrechtsorganisation âHuman Rights Campaignâ. Die Abstimmung des schottischen Parlaments zur Reformation des Gender Recognition Acts, der trans Personen die Ănderungen ihres Geschlechtseintrags erleichtern wĂŒrde, wird von der britischen Regierung blockiert. Im Rahmen der Debatte um die Transfeindlichkeit von JK Rowling erhalten Aktivist*innen regelmĂ€Ăig Todesdrohungen, wĂ€hrend sie selbst ihre Reichweite und ihr Vermögen dafĂŒr einsetzt, Kritiker*innen zum Schweigen zu bringen und âgenderkritischeâ Initiativen zu unterstĂŒtzen.
Trans Personen werden immer wieder implizit und explizit als pĂ€dophil, psychisch krank und gemeingefĂ€hrlich dargestellt.Â
Dieser Hass manifestiert sich in queerfeindlichen Terrorattentaten (Bratislava, Oktober 2022 oder Colorado Springs, November 2022), dem Mord an transgeschlechtlichen Menschen - wie zuletzt der 16 Jahre alten Brianna Ghey in England - und nicht zuletzt in der Tatsache, dass trans Personen ĂŒberproportional hĂ€ufig in den Suizid getrieben werden.
WĂ€hrend trans Personen der Angst ausgeliefert werden, diskreditiert die Jungle regelmĂ€Ăig ihren Kampf um Nischen der Selbstbehauptung. Die Motive werden mit geringfĂŒgiger Variation stĂ€ndig wiederholt:Â
Verharmlosung von transfeindlicher Gewalt (zum Beispiel: âSex ohne Körperâ, Till Randolf Amelung, 13/21; âWho done itâ, Till Randolf Amelung, 37/22, âDie Ainsworth-Böhmermann Pipelineâ Till Randolf Amelung/Holger Marcks 50/22)
Platforming von transfeindlichen Aktivist:innen (zum Beispiel: Interview zwischen Vojin SaĆĄa VukadinoviÄ und Rosa Freedman, 07/21; âImmer Trouble mit Genderâ, Dierk Saathoff, 40/21, âDas bisschen Mobbingâ, Vojin SaĆĄa VukadinoviÄ, 50/21, âAuf tönernen FĂŒĂenâ, Dierk Saathoff, 17/22)
Darstellung von trans Frauen als sexuellen Aggressorinnen, die FrauenschutzrĂ€ume unsicher machen wĂŒrden oder cis Frauen zum Sex drĂ€ngen wollen (âDie Reform wĂŒrde eine biologische Fiktion von Frauen mit Penis erschaffenâ, Naida Pintul, 04/2019, âQueere Homophobieâ, Dierk Saathoff 43/22 / âFeministische Nazisâ, Vincent Sboron 50/22)
Einseitige Diffamierung der KĂ€mpfe um trans Rechte im Allgemeinen und Queerfeminismus im Besonderen als âhysterischâ & autoritĂ€r. (zum Beispiel:, âTransaktivismus gegen Radikalfeminismusâ, Till Randolf Amelung, 29/22,, âQueerfeminismus oder SchlĂ€gereiâ; Infoladengruppe Conne Island, 01/23)
Obwohl Kritik daran schon seit lĂ€ngerem formuliert wird, scheint sich nichts an diesem Zustand zu Ă€ndern. Wir, die Unterzeichner*innen, halten das fĂŒr absolut inakzeptabel und fordern eine grundsĂ€tzliche Auseinandersetzung der Redaktion mit dem Thema.
Konkreter und ausfĂŒhrlicher zur Sache:
Das politische BedĂŒrfnis hinter reaktionĂ€rer Anti-Trans-Politik ist klar: Die bĂŒrgerliche Reproduktionsgemeinschaft, also die heterosexuelle, zweigeschlechtliche Kleinfamilie, soll von den vermeintlich WidernatĂŒrlichen und Perversen "geschĂŒtzt" werden, schlieĂlich soll jede geschlechtliche Abweichung verfolgt werden. Zentral dafĂŒr ist das latent antisemitische Ressentiment gegen eine âDenaturierungâ bzw. âĂberkulturalisierungâ der Gesellschaft, das sich vor allem in einer Moralpanik vor der sexualisierenden VerfĂŒhrung der Kinder und einer gesteigerten Gewalt gegen cis Frauen durch âFetischistenâ Ă€uĂert. Transfeindlichkeit ist dabei das explizite Hauptmotiv, die Folgen gehen aber weit darĂŒber hinaus. Gerade ein Blick in die USA zeigt, wie Transfeindlichkeit von Antifeminist*innen genutzt wird, um weitreichende GesetzesvorschlĂ€ge einzubringen, die das Potential haben, effektiv das öffentliche Leben von trans Menschen, vor allem trans femininen Menschen, zu verbieten und der erneuten prinzipiellen VerdĂ€chtigung und Kriminalisierung von Geschlechtlichkeit, "die nicht der Biologie" entspricht, TĂŒr und Tor zu öffnen. Die Auswirkungen treffen dann auch andere Personen im LGBTIQ-Spektrum, etwa, wenn Drag-Shows verboten werden oder nur mehr unter Bewachung stattfinden können. Vor allem in UK, aber auch in der BRD zeigen sich die gleichen Motive und Bewegungen, in der Kritik an den geplanten Self-ID/Selbstbestimmungsgesetzen â nur noch nicht so radikalisiert.Â
Es ist mehr als Ă€rgerlich, diesen bizarren Unsinn auch in der Jungle lesen zu mĂŒssen, etwa  wenn dort geraunt werden darf, dass es eine legitime Sorge wĂ€re, dass mit dem Selbstbestimmungsgesetz die "HĂ€lfte der Bevölkerung die Garantie auf SchutzrĂ€ume verliert". Die groteske Fantasie, MĂ€nner wĂŒrden den extrem stigmatisierten Prozess einer Transition durchlaufen, um eine öffentliche Toilette zu besuchen, kaschiert, dass man eigentlich nichts anderes bedient als den Mythos von trans Frauen als "verdeckten TĂ€ternâ â oder gleich "biologischen MĂ€nnern in Frauenkleidernâ. Wer beansprucht, eine emanzipatorische Haltung zu vertreten, muss doch herausstellen, worin diese sich inhaltlich substantiell noch von Transfeind*innen und Antifeminist*innen unterscheidet.
Wissen Autor*innen und Redaktion der Zeitung etwa nicht, dass Self-ID Gesetze gar nicht den Zugang zu WCs, Umkleiden etc. regeln? Oder dass sowohl die Erfahrung von FachkrĂ€ften , als auch die Empirie, die auch in LĂ€ndern erhoben wurde, die schon seit Jahren solche Gesetze haben, sagen, dass die Sorge von einem Anstieg an Gewalt unbegrĂŒndet ist? Im besten Fall wĂ€re das erschĂŒtternd uninformiert; im schlimmeren Fall werden hier transfeindlich-moralpanische Ressentiments als Quelle solcher Sorgen bewusst oder fahrlĂ€ssig legitimiert.Â
Gerne werden in der Jungle solche Positionen mit âMaterialismusâ oder "materialistischem Feminismus" begrĂŒndet. Dieser mĂŒsste sich allerdings immer in der Sache beweisen, also zum Beispiel da, wo eine materialistische Analyse von geschlechtlicher Subjektivierung im kapitalistischen Patriarchat am Gegenstand durchgefĂŒhrt wird. Genau das lĂ€sst sich in den benannten Artikeln jedoch nicht erkennen. Stattdessen gibt es immer wieder einseitige Parteinahmen fĂŒr (Pseudo-)Radikalfeminist*innen, die einen biologistischen Geschlechtsbegriff verfolgen â schlichtweg Fetischisierung von erster Natur, die sich als materialistische Perspektive ausgibt. Paradoxerweise ist es derzeit eine beliebte rechte Diskursstrategie, der politischen Linken einen fehlenden Materialismusbegriff zu unterstellen, wĂ€hrend man selbst einer ânatĂŒrlichen Ordnung der Gesellschaftâ das Wort redet. Die Attacke gegen trans Personen ist das zentrale Feld, auf dem diese verzerrte Gesellschaftskritik in eine verzerrte Subjektkritik ĂŒberfĂŒhrt wird. Menschliche Natur ist aber schon immer vermittelt, immer schon zweite Natur â hinter diese grundlegende Einsicht zurĂŒckzufallen, ist einem theoretisch informierten linken Blatt unwĂŒrdig.Â
Klassische Radikalfeminist*innen wie Andrea Dworkin sprachen davon, dass die biologische GeschlechterbinaritĂ€t des Patriarchats âRealâ, aber âFalschâ sei, verachteten Biologismus und verwiesen auf Gemeinsamkeiten von KĂ€mpfen gegen Frauenhass und Transfeindlichkeit. Was man von neuen Ikonen eines vermeintlichen âRadikalfeminismusâ wie Kathleen Stock aus den UK zu halten hat, zeigte sich allerspĂ€testens am 24.06.22: Als in den USA der verfassungsrechtliche Schutz auf Abtreibung gekippt wurde, also einer der gröĂten Angriffe auf körperliche Selbstbestimmung im globalen Norden erfolgte, gab sie in den sozialen Medien zu Protokoll, dass sie viele âPro Lifeâ-Aktivist*innen durchaus schĂ€tzen wĂŒrde. Die PrioritĂ€t liegt eben bei Transfeindlichkeit, nicht bei Frauenrechten.
Stock hat es erfolgreich geschafft, Kritik und Proteste gegen ihre Transfeindlichkeit als âCancel Cultureâ zu mythologisieren, was in der aktuellen Medienlandschaft bekanntermaĂen dazu fĂŒhrt, dass man die eigene âzum Schweigen gebrachteâ Stimme Ă€uĂerst erfolgreich verbreiten und verkaufen kann. Dass dies nicht nur in der UK, sondern auch im deutschsprachigen Raum gelingen konnte, ist auch der Jungle World zu verdanken. Diese lieĂ Vojin SaĆĄa VukadinoviÄ mehrmals tendenziös zur Sache berichten und erwĂ€hnte dabei nicht einmal, dass der Autor als deutscher Ăbersetzer von Stocks Buch voreingenommen sein sollte.
Ăhnlich verhĂ€lt es sich mit Marie Luise Vollbrecht, die nicht nur von linken Autor*innen wie Jörg Finkenberger oder der Redaktion des NĂŒrnberger âAutonomie Magâ als neuer Stern am Himmel eines âlinkenâ Radikalfeminismus gefeiert, sondern auch von Jungle-World-Autor*innen verteidigt wird.
Vollbrecht â- die sich von der AfD-nahen Anwaltskanzlei Höcker vertreten lĂ€sst und auf Social Media regelmĂ€Ăig mit rechtsradikalen Trollen interagiert, â fungiert effektiv als transfeindliche Aktivistin, die ihre Profession als Biologin öffentlichkeitswirksam einsetzt, um ihre politischen Gegner*innen der Unwissenschaftlichkeit zu unterstellen. Dabei ist ihr Bioessentialismus getragen von transfeindlichen Argumentationen eines hauptsĂ€chlich von Antifeminist*innen, christlichen Fundamentalist*innen und Rechtsradikalen gefĂŒhrten Kulturkampfes.
Dass es Stellen gibt, wo trans- und frauenpolitische Anliegen tatsĂ€chlich in Ambivalenzen und WidersprĂŒche treten können, kann und sollte man diskutieren. Genau so wie es eine lohnende feministische Ideologiekritik am links-liberalen Mainstream des Queerfeminismus gibt. Feminist*innen wie Karina Korecky und Daria Kinga Majewski haben das in der Outside The Box zum Beispiel geleistet. Der Unterschied ist jedoch, dass in diesen Artikeln ein tatsĂ€chlich materialistischer Naturbegriff verwendet wird und ein konsequentes feministisches Erkenntnisinteresse zu Grunde liegt, was dazu fĂŒhrt, dass sie gar nicht erst Gefahr laufen, die Ressentiments transfeindlicher und antifeministischer ReaktionĂ€re zu bedienen.Â
Wir beklagen, dass Transfeindlichkeit in der Jungle World immer wieder eine Plattform bekommt und als zentrales Ideologem des aktuellen Antifeminismus und der Querfront offenbar nicht ernstgenommen wird.
Vor allem beklagen wir, dass die âJungle Worldâ in Bezug auf die Debatte um Transfeindlichkeit ihrem Anspruch als linksradikale Zeitung nicht gerecht wird.
Wie wir dargelegt haben, sind trans Menschen momentan weltweit einer brutalen Hasskampagne ausgesetzt. Anstatt sich solidarisch hinter eine marginalisierte Personengruppe zu stellen, der aufgrund patriarchaler und biologistischer Vorstellungen von Geschlecht eine zumindest ansatzweise freien Entfaltung als Subjekt verwehrt wird, macht die Jungle World mit bei Falschinformationen und DĂ€monisierung.
Letztendlich wĂŒnschen wir uns, fĂŒr eine Zeitung schreiben zu können, die wir als VerbĂŒndete wissen in einem Kampf fĂŒr eine Gesellschaft, in der auch trans Menschen ohne Angst verschieden sein können.
Liste der Erstunterzeichner*innen:
Anna Kow
Babsi Cluthe-Simon
Bettina Wilpert
Charlotte Mein
Daniel Keil
Daria Kinga Majewski
Frédéric Valin
Ismail KĂŒpeli
Kim Posster
Koschka Linkerhand
Kuku Schrapnell
Leo Fischer
Thorsten Mense
Tom David Uhlig
Veronika Kracher
Weitere Unterzeichner*innen:
Mattheus Hagedorny
Lisa Bor
Lain Iwakura
Larissa Schober
Andreas Lugauer
Anja Hertz
Lina Dahm
Marit Hofmann
Jeja Klein
Rebecca Maskos
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