Tumgik
#James Chladek
taunuswolf · 1 month
Text
Tumblr media
Bis weit in die 70ziger Jahre hinein gab es in Wiesbaden nur zwei Theater: Das Staatstheater und das „Intime Theater“, eine kleine Bühne in der Saalgasse, untergebracht in einem spätklassizistischen Gebäude, das wohl in den 80zigern der Abrissbirne zum Opfer fiel. Es wurde 1966 gegründet, so der einzige winzige Hinweis im Netz. Hier wurden von Profischauspielern hauptsächlich Komödien gespielt, ähnlich wie beim Ohnesorg-Theater in Hamburg. Jedoch ohne den medialen Erfolg. Wer damals anspruchsvollere Kleinkunst suchte, der fuhr nach Mainz, wo es schon seit 1971 das UNTERHAUS in seiner jetzigen Form gab oder nach Frankfurt. Dies wollte der Bühnenbildner James Chladek ändern. Pioniere zögern nicht lange. Sie fangen einfach an. Wie ein einsamer Rufer fragte James zur Jahreswende 1973/74 im Jazzhaus in die Runde: „Wer von euch hat Lust ein Theater zu gründen?“
VORBILD: DAS UNTERHAUS FORUM IN MAINZ
Wie immer, wenn in Wiesbaden jemand eine tolle Idee hat, kommen gleich viele Leute angerannt und wollen mitmachen. Zunächst entstand so etwas wie ein lockerer Kultur-Gesprächs-Kreis, der erst mal „ausdiskutieren“ wollte, was man überhaupt will. Die einen wollten lieber Musik machen, freie Session-Musik, die anderen Improvisationstheater wieder andere suchten eine „Selbsterfahrungsgruppe“. Mann und Frau traf sich – am Anfang fast ein duzend Leute - in der großen Altbau-Wohnung eines Mainzer Grafik-Professors in der Oranienstraße und parlierte ergebnislos bis tief in die Nacht. James ging das alles nicht schnell genug. Er hatte schon sein Konzept im Kopf: Ein Kleinkunst-Kellertheater nach dem Vorbild des Mainzer Unterhauses. Deren Betreiber kannte er persönlich. Zeitgleich schaute er sich bereits nach geeigneten Räumlichkeiten um und stieß dabei auf einen großen, tiefen Keller in der Blücherstraße. Eine Lokalität, die jedoch bald verworfen wurde. Der Ausbau, sprich Renovierung hätte viel zu lange gedauert. Außerdem fehlten Sanitäre Anlagen.      
FREILICHTBÜHNE IM HINTERHOF VOM DOMIZIL
Einen geeigneten Ort für die Kleinkunstbühne fand James schon bald in dem erst kürzlich eröffneten Musik-Szenelokal „Domizil“ in der Moritzstraße, nach dem Jazzhaus und dem legendären Bumerang Mitte der 70ziger die wichtigste Lokalität des intellektuellen Nachtlebens. An der Stirnwand über dem Eingang prangten stilisierte Eulen. Ein Zeichen, dass hier kluge Köpfe ein und ausgingen.  Hier gaben sich vor allem Folkmusiker, Liedermacher und Bluesmusiker die Klinke in die Hand. Der im Herbst 2023 verstorbene Frontman der Crackers Loti Pohl, nahm hier 1974 sein Debüt-Album auf. Auch der früh verstorbene Fernsehsprecher Martin Schäfer, der mit Loti in einer A-Cappella-Band sang, war ein häufiger Gast in der Moritzstraße. Musik-Kleinkunst und Theater-Kleinkunst im Szenekneipen-Umfeld. Ein Konzept, dass aufgehen könnte, dachte sich James. Als dieser kühne, aber durchaus zu realisierende Plan feststand, war von den Theaterunterstützern der ersten Stunde nur noch einer übrig geblieben, die anderen hatten sich längst anderen Projekten zugewendet. Dieser eine war jedoch bereit bei konkreten Bühnenstücken eine tragende Rolle zu übernehmen. Zum Beispiel den „Lehrer“ im JA UND NEINSAGER von Bertold Brecht.
Inzwischen hatten sich auch drei weitere Akteure gefunden – darunter eine ehemalige Profischauspielerin – die sich auf die Bretter wagten, von denen man sagt, dass sie für manche die Welt bedeuten. Doch diese „Bretter“ mussten buchstäblich erst mal gezimmert werden. In diesem Punkt konnte James auf seine Bühnenbildner-Erfahrung vertrauen. Es klingt unglaublich. Im Handumdrehen baute James teilweise aus dem Holzgerümpel, das überall herumstand, mit tatkräftiger Unterstützung seiner Akteure im Hinterhof des Domizils eine richtige Freilichtbühne und errichtete anschließend in einem Nebenraum des Lokals noch ein Zimmertheater, verlegte Teppichboden usw. Parallel büffelten die Allround-Akteure fleißig ihren Bertold-Brecht-Text. Das Wiesbadener „Forum-Theater“ war geboren. Eine Sturzgeburt…         
MIT PINK FLOYD IN THE DARK SIDE OF DOMIZIL
An einem lauen Mai oder Juni-Abend war es dann bereits so weit. Unter den sphärisch-psychodelischen Klängen von Pink Floyds „Dark Side oft he Moon“ erhob sich im Scheinwerferkegel der Lehrer, bekleidet mit einem völlig aus der Zeit gefallenen DDR-Straßenanzug und sprach langsam jede Silbe betonend in den dunklen gut besuchten Zuschauer-Hinterhof: „Ich bin der Lehrer. Ich habe eine Schule in der Stadt und eine Schülerin deren Vater tot ist.“ Auch die anderen Schauspieler gaben diesem eher eintönigen Brechtlehrstück, besser gesagt „Brechtbelehrungsstück“ eine düstere, dichte Atmosphäre, die mit der Enge des Hinterhofes gut korrespondierte. Die Botschaft - nicht alles, was man von oben verordnet bekommt, in Untertanenmanier auszuführen - bekommt heute, 50 Jahre später, angesichts von Denunziations-Plattformen, selbsternannten Anzeigenmeistern und Blockwarten einen bitteren Beigeschmack. Dokumentarisch festgehalten wurden die Aufführungen von Klaus Koschwitz, deren meisterhafte Schwarzweiß-Fotografien schon vor 50 Jahren wie edle Daguerreotypien aussahen. Unter den Zuschauern befand sich übrigens ein angehender österreichischer Schauspieler, der später durch etliche Fernsehrollen sehr bekannt wurde.                    
BELEHRUNGS-FILM UND RAUSWURF
Der Anfangserfolg war groß. Die Aufführungen waren ausverkauft. Auch das Zimmertheater wurde angenommen. Schließlich ging man sogar auf Tournee. Eine Aufführung fand in der Aula einer Schule in Idar-Oberstein statt. Das Ende kam schnell, aber nicht unerwartet. James hatte einen jungen Mann in sein Team aufgenommen und ihm die Rolle des „Regieassistenten“ zuerkannt, obwohl er überhaupt keine Ahnung vom Theater hatte. Der mischte sich immer mehr ein, was die Atmosphäre zunehmend vergiftete. Das endgültige Ende kam, als James ohne Absprache die Einnahmen der Aufführungen für die Veranstaltung eines Filmabends verwendete. Auf dem Programm stand „Die Brücke“, ein Streifen, den jeder Schüler der damaligen Zeit als Pflichtbesuch aufs Auge gedrückt bekam und daher schon kannte. Für die meisten war das Thema nach unzähligen Diskussionen mit den Vätern der 3. Reich-Generation ziemlich durch. Niemand brauchte eine Belehrung. Die Zuschauerbänke blieben leer.  Da riss auch beim letzten der Geduldsfaden. Hinzu kam, ein Vorfall, der dazu führte, dass der Wirt des Domizils nicht mehr bereit war die Räumlichkeiten dem Forum-Theater zur Verfügung zu stellen.  
Hier trennten sich die Wege. James hat noch länger als ein Jahrzehnt unter dem gleichen Namen „Forum-Theater“ in einer städtischen Einrichtung am Platz der deutschen Einheit eine Art Jugendtheater betrieben. Die schönen Koschwitz-Bilder, die wie durch ein Wunder nicht vergilbten oder verblasten hingen noch Jahrzehnte in den großen Schaufenstern des bereits ungenutzten Gebäudekomplexes am Platz der Deutschen Einheit. Da war James längst verstorben.     
EPILOG
Hier ist meine Zeitreise mal wieder zu Ende. 50 Jahre später frage ich mich: Warum habe ich James damals bis zuletzt unterstützt? Eine Antwort könnte sein, dass ich James, den konsequenten vom Leben gebeutelten Bohemien und Pionier unbewusst mit meinem nicht wesentlich älteren sehr kleinbürgerlichen erfolgreichen Vater verglich. Ein Kontrast, der schärfer nicht sein konnte: James gehörte zu den ersten, die sich offen zu ihrer Bisexualität bekannten und hatte sich deswegen noch Anfang der 70ziger eine Menge Ärger eingehandelt. Mein Vater war durchweg homophob. James hatte als Leutnant einer berittenen Maschinengewehrschützen- Einheit an der Ostfront im Dauerfeuer den zweiten Weltkrieg in seiner ganzen Brutalität kennengelernt und nach 1945 dem ganzen unseligen Spuk der NS-Ideologie aus seinem Leben verbannt und gegen Werte wie Freiheit und Selbstbestimmungsrecht eingetauscht. Für meinen Vater waren sogar Bärte und lange Haare ein Greul. Wie er sogar in einem Büchlein der Öffentlichkeit mitteilte. Über seine Kinder-Erziehungsmethoden schweige ich mich Höflichkeitshalber aus.  
Warum ich in James vorübergehend einen väterlichen Freund fand, ist damit hinreichend beantwortet. Es gibt Menschen, den werden alle Türen geöffnet. James blieben viele Türen verschlossen. Pioniere haben selten das Glück, das ihr Idealismus belohnt wird. In den 80zigern und 90zigern schossen Kleinkunsttheater und Bühnen wie Pilze aus dem Boden. Da war James Chladek bereits vergessen.           
0 notes