Tumgik
testosteronteufel · 4 years
Text
Ich bin jetzt in einem Zimmer ganz am Ende des Ganges der Station. Das Zimmer hat, im Gegensatz zu vielen anderen, ein eigenes Bad mit Dusche. Mein Zimmergenosse ist ganz nett, auch wenn von ihm auf eine gewisse Art und Weise etwas Komisches ausgeht. Er ist ein etwas älterer Herr, ich schätze ihn auf Ende 40, und hat ein kleines Radio mit einer sehr langen Antenne bei sich. Er trägt eine Nickelbrille und seine Haare sind schon etwas licht. Eines Tages unterhalte ich mich mit ihm. >>Wieso bist du hier?<<, frage ich frei raus. Er schaut mich scharf und ein wenig berechnend an, während er seinen Blick zur Wand richtet. >>Ich gehe damit nicht hausieren.<<, antwortet er nur. Eine kurze, etwas peinliche Pause tritt ein. Dann nimmt er eine Broschüre in die Hand. Geanu die gleiche, welche ich gestern noch gelesen habe. Es wird die Krankheit Psychose beschrieben. Und zwar mit allem, was dazu gehört. Entstehung, Diagnostik, Symptome und Behandlung. Er schlägt eine Seite auf, schaut kurz hinein, reicht sie zu mir rüber und sagt dabei:>>Lies den ersten Abschnitt hier. So in etwa fühle ich mich.<< Ein wenig zögernd nehme ich ihm das Heftchen ab und beginne zu lesen.
Sie stehen morgens auf und fühlen sich argwöhnisch, bedroht, unruhig und sind gegenüber Ihren Mitmenschen sehr misstrauisch? Sie ernähren sich nur noch aus Konserven, da sie Angst haben vergiftet zu werden. Sie lesen die Nachrichten und glauben, dass sich die Welt gegen Sie verschwört. Sie schauen Fernsehen und haben das Gefühl, dass Ihnen eine höhere Kraft - vielleicht von Außerirdischen - versucht, Mitteilungen zu senden. Sie ziehen sich zurück. Sie verlieren das Interesse an sozialen Kontakten und gehen kaum noch aus dem Haus, da Sie Angst haben, Ihnen könne etwas schlimmes passieren. Sie sind darüber hinaus antriebslos, schwach und können trotzdem nicht schlafen. Andere Menschen - selbst Ihre Familienangehörigen - reden über Sie und halten Sie für merkwürdig. Alles, was Ihnen widerfährt, geschieht nicht aus Zufall, sondern hat eine besondere, nur für sie bestimmte Bedeutung.
Ich höre auf, geistesabwesend auf die Broschüre zu starren und schaue wieder zu ihm. Eine leichte innere Unruhe macht sich in mir breit, da ich mich auch in einigen Hinsichten mit diesem Text identifizieren kann und Angst habe, dass es noch schlimmer wird. Allerdings spreche ich das nicht laut aus, sondern versuche, von diesem Thema ein wenig abzuweichen. >>Was für Medikamente nimmst du?<< Wieder schaut er mich zögernd und zunehmend argwöhnisch an. >>Auch damit gehe ich sehr ungern hausieren. Und entschuldige mich bitte jetzt. Meine Stimmbänder müssen sich wirklich anstrengen gerade, dass ich reden kann.<< Und genau in diesem Moment merke ich, dass seine Stimme leiser und seine Worte undeutlicher werden. Ich merke, dass er keine Lust mehr hat, sich zu unterhalten und entschließe mich dazu, nichts mehr zu sagen und zum Schwesternzimmer zu gehen, dass ich ein wenig an die Luft kann und Abstand zu diesem merkwürdigen Menschen bekomme. >>Ich gehe mal spazieren. Danke für das Gespräch.<< Er nickt nur und wendet sich ab.
30 Minuten später
Ich schlendere gedankenversunken an den sich empor wölbenden Plattenbauten vorbei und mein Blick wandert über das Psychiatriegelände, welches für diese Uhrzeit wie ausgestorben wirkt. Die Sonne geht langsam unter und taucht die Fassaden der Gebäude in leichte Schatten. Nicht nur das Gebäude hier hat einen Schatten, denke ich mir und meine Lippen zucken ein wenig zu dem Anflug eines Grinsens. Mein Blick fällt auf ein kleineres Bauwerk, das noch viel schmuddeliger ausschaut als der Rest und in abblätternden Lettern die Aufschrift Suchtfallambulanz trägt. Ich sehe das gerade zum ersten Mal und frage mich, ob dort Patienten behandelt werden, die wegen einer Heroinsucht mit Methadon substituiert werden. Vor meinem geistigen Auge erscheint ein Artikel, den ich vor langer Zeit gelesen habe und welcher eine solche Methadonsubstitution thematisiert hat. Vage erinnere ich mich daran, dass auch Methadon ein Opiat ist, allerdings nicht intravenös gespritzt wird, sondern in flüssiger Form, oder als Tablette verabreicht wird, sodass der Effekt des Rausches nicht dem des Heroins nachkommt. Außerdem habe ich von Diacetylmorphin gelesen, was schlicht und einfach Heroin in Medikamentenform ist. Läuft bei diesen Patienten. Sie bekommen ein Rauschmittel, welches von der Krankenkasse bezahlt wird. Jetzt grinse ich wirklich. Ob es ein ähnliches Substitutionsprogramm auch für anabole Steroide gibt? Nun gut. Steroide berauschen nicht unmittelbar Sekunden nach der Einnahme, aber sie verändern die Persönlichkeitsstruktur auf lange Sicht, was sicherlich genauso beruhigend ist. Allerdings scheint sich kein Arzt damit so richtig aus zu kennen. Nach einer Injektion Trenbolon - ein weitaus androgeneres und gewiss stärkeres Steroid als Testosteron - kommt es vor, dass man einen öligen Geschmack im Mund hat und dass man beim Treppensteigen völlig außer Atem ist. Das ist wohl Indiz genug, dass man sich mit diesem Zeug wirklich kaputt macht. Von den psychiatrischen Nebenwirkungen mal ganz zu schweigen. Wegen dieser psychiatrischen Nebenwirkungen bin ich hier gelandet. Doch auch in dieser Hinsicht ist das Thema anabole Steroide ein Mysterium. Als ich meinem behandelnden Arzt von meinem Medikamentenmissbrauch erzählt habe, sagte er mir, dass er noch nie einen Patienten hatte, der diese Form von Polytoxikomanie mitgebracht hat. Für diesen Begriff hat er das Synonym multipler Substanzmissbrauch verwendet. Das trifft definitiv auf mich zu. Die Liste von den Substanzen, die ich mir alle genehmigt habe, ist länger als die Schlange auf der Station, wenn es jeden Donnerstag Kuchen gibt. Ich lächele leise in mich hinein und schaffe es nicht, ein makabres Lachen zu unterdrücken. Unwillkürlich muss ich an meinen neuen Zimmergenossen denken. Ob er auch Drogen genommen hat? Hat er vielleicht sogar Stimmen gehört? Ich versuche meine Gedanken auf etwas anderes zu schieben und entscheide mich dazu, zum Kiosk auf dem Gelände zu gehen, um mir Zigaretten und Schokolade zu kaufen. Mit dem Rauchen habe ich wieder angefangen, aber es stört mich nicht. Genauso wenig stört mich die Tatsache, dass meine Ernährung in jeglicher Hinsicht ungesund und fitness-aversiv ist. Ich freue mich schon auf die würzig qualmende Zigarette und einen leckeren Schoko Brownie. Jeder scheint sich hier des Essens zu erfreuen. Über was soll man sich auch sonst freuen? Na gut. Sagen wir mal auf die Entlassung und ein besseres Know-how über sedierende Betäubungsmittel, welche man dann in aller Freiheit munter selbst dosieren kann. Sprich in exorbitanter Dosierung. Ich muss an die Songzeile eines bekannten Rappers denken. ‘‘In hohen Dosen wie Pringles Chips‘‘. Diesmal hallt mein makabres und durchaus wahnsinniges Lachen über das weite Gelände der Klinik.
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