“Maigret at Bay” (1969)
Nach dem überwältigenden, internationalen Erfolg von “Maigret” kehrte Rupert Davies sechs Jahre nach dem Ende der Serie im Rahmen der Reihe “BBC Play of the Month” zu der Rolle seines Lebens zurück.
Helen Shingler als die wunderbare Madame Maigret und Neville Jason als Lapointe (hier mit dem Vornamen Victor statt Albert wie er in “Maigret und die Tänzerin Arlette” genannt wurde) wiederholen ihre Rollen aus der Serie.
Aufwändige Außenaufnahmen in Paris zeigen den Protagonisten unter anderem auf dem Place de la Concorde und in der Nähe der Sorbonne. Endlich hat Maigret seinen originalen Dienstgrad Commissaire erhalten statt dem fälschlichen “Inspector” und dem nicht ganz adäquaten “Chief Inspector”.
“Maigret at Bay” (zu deutsch: “Maigret in Schach”) basiert auf Georges Simenons Roman “Maigret verteidigt sich”. Die beiden Hauptthemen des Fernsehfilms sind das Alter und die Sexualität.
Paris, August 1968. In Erwartung seines fünfzigsten Geburtstages befindet sich Kommissar Jules Maigret in gedrückter Stimmung. Sein Hausarzt Dr. Pardon (Geoffrey Morris) diagnostiziert bei seinem unter Schlaflosigkeit leidenden Freund, der sich kürzlich angewohnt hat, ausgiebig aus dem Fenster zu schauen, ohne jedoch seine Umgebung allzu intensiv wahrzunehmen, er befände sich nunmehr im Klimakterium. Maigret glaubte bisher, dies betreffe ausschließlich das weibliche Geschlecht, bis ihn Dr. Pardon eines besseren belehrt.
Madame Maigret glaubt, ihr geliebter Mann leide unter Arbeitsüberlastung - derzeit ist er mit den Ermittlungen in einer Reihe von gewagten Juweliereinbrüchen beschäftigt - und benötige daher dringend Urlaub zur Erholung. Ähnlich wie Dr. Pardon schlägt sie ihm vor, ein Landhaus zu erwerben, wo er seinem Hobby, dem Angeln, nachgehen könne. Maigret weist dies von sich, denn schließlich sei er erst fünfzig und nicht achtzig. Einen Beweis in physischer Form muss er seiner Gattin jedoch wegen eines nächtlichen Anrufes zunächst schuldig bleiben.
Eine gewisse Nicole Calve (Gillian Hills), die sich als Tochter eines hohen Verwaltungsbeamten aus La Rochelle ausgibt, ruft ihn zu ihrer Hilfe. Die junge Frau erzählt, sie sei von zu Hause fortgelaufen, in Paris in schlechte Gesellschaft geraten und beraubt worden. Väterlich nimmt sich Maigret ihrer an und bringt sie in einen Hotel unter.
Als Maigret am nächsten Tag die Geschichte von seinem Assistenten Acolant (Hans de Vries) überprüfen lässt, erfährt er, dass in La Rochelle gar kein Magistratsbeamter namens Calve existiert.
Der Polizeipräfekt (Donald Pickering), ein noch junger aber vor Arroganz und Gefühlskälte strotzender Mann, lässt Kommissar Maigret zu sich rufen. Dort erfährt Maigret dass Nicole Prieur, die Nichte des Vorsitzenden des Berufungsgerichtes, eine schwere Anschuldigung gegen ihn erhoben hat: er soll die junge Frau zu nächtlicher Stunde in einer Bar aufgegabelt, sie zum Trinken animiert haben und versuchte anschließend sie in einem Hotelzimmer zu vergewaltigen. Lediglich ihr Weinen habe ihn wohl schlussendlich davon abgehalten. Maigret ist zutiefst bestürzt, was der Präfekt, der Maigret dessen Renommee sichtlich neidet, erbarmungslos ausnützt. Er befiehlt dem Kommissar, entweder seinen sofortigen Rücktritt einzureichen oder zu seiner derzeitigen Arbeit zurückzukehren, während ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet wird. Es sei Maigret jedoch strikt verboten, eigene Untersuchungen in dem Fall anzustellen.
Kommissar Maigret diktiert seinen Mitarbeitern - der treue Lapointe glaubt nicht einen Augenblick lang, dass die gegen seinen Chef erhobenen Anschuldigungen wahr sein könnten - einen Bericht über seine Aktivitäten an dem betreffenden Tag und beginnt sogleich mit seinen eigenen Ermittlungen, wobei Maigret rasch erkennt, dass jemand drastische Maßnahmen unternimmt, um ihn aus seiner derzeitigen Position zu entfernen, weil er von ihm etwas zu befürchten hat.
Maigrets Nachforschungen führen ihn zu Manuel Palmari (Clive Cazes) und dessen Geliebter Aline (Mary Webster). Der Kommissar verdächtigt, Palmari entweder selbst der Drahtzieher der Juwelendiebstähle zu sein oder aber zumindest die Hintermänner zu kennen.
Der seit drei Monaten pensionierte Inspector Barnacle (Marc Barrett), der von der neuen Administration nichts mehr zu befürchten hat, heftet sich an die Fersen von Nicole Prieur. Maigret ist überzeugt, dass die junge Frau sich dieses Komplott nicht ausgedacht hat sondern im Auftrag von jemandem handelt, in den sie verliebt ist.
Maigret befürchtet, Repressionen gegen Lapointe, wenn dieser ihn bei seinen Ermittlungen unterstützt, doch der junge Mann hält treu zu seinem Chef. Über seinen Cousin Oscar Coutant (Murray Evans), der als Pförtner an der Sorbonne tätig ist, erhalten sie Informationen über Nicole Prieur. Die junge Frau ist Kunststudentin und verkehrt in gewissen Szene-Kreisen der reichen Schickeria, die sich unter anderem in dem "Club der Hundert Schlüssel" in Montmartre trifft. Bei einen Abendessen mit seiner Gattin vor Ort erfährt Maigret, dass man für die Mitgliedschaft in diesem Club einen Bürgen benötigt. Für Nicole hat ein gewisser Dr. Francois Melan (Tony Harwood) gebürgt, dessen Zahnarztpraxis sich seltsamerweise genau gegenüber der Wohnung von Manuel Palmari befindet.
Maigret gelangt auf die Spur eines durch ein furchtbares Kindheitserlebnis traumatisierten Psychopathen, der bereits drei Frauen getötet hat und der in dem auf dem Nachbarbalkon stehenden und gelegentlich ins Leere starrenden Kommissar einen potentiellen Feind erkannt hat, den er zu beseitigen versucht, während Maigrets Interesse lediglich dem Inhaber der von ihm besuchten Wohnung gilt ...
“Maigret at Bay” atmet ganz die Atmosphäre der späten Sechziger Jahre, was man unter anderem an Nicole Prieurs Mini-Mode und Lapointes längerem Haar bemerkt.
Das entscheidende Thema des Films ist das Alter seines Protagonisten, den der einschneidende fünfzigste Geburtstag mit Melancholie erfüllt. Seit seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr ist Kommissar Maigret als Kriminalist tätig: von der Streifenpolizei, der Sitte und dem Glücksspieldezernat bis hinauf zur Leitung der Mordkommission. Lediglich fünf Jahre verbleiben ihm noch bis zu seiner Pensionierung, ein Gedanke, der ihm nicht im geringsten behagt.
Körperlichkeit und Sexualität sind das andere Hauptthema von "Maigret at Bay". Sowohl Dr. Paron als auch Nicole Prieur und Oscar Coutant äußern sich zur Physis von Maigret, wobei vor allem seine Körpergröße und sein Gewicht Erwähnung finden. Bei der Untersuchung durch seinen Hausarzt sieht der Zuschauer zum ersten Mal Kommissar Maigrets imposante Physis ohne Hemd.
In der Rückblende mit den falschen Beschuldigungen von Nicole - adäquat zu ihren Lügen größtenteils in schiefer Kameraperspektive gehalten - erscheint er als übermächtig stark und posiert dominierend vor ihr, indem er sich auf den Tisch setzt statt zu ihr daneben. Er prahlt - etwas, das der wahre Maigret niemals auch nur ansatzweise tun würde, da er ganz und gar in sich selbst ruht und dergleichen daher nicht nötig hat - mit seiner Popularität in den Zeitungen und seinem Ruf als “Schrecken der Verbrecher”. Stets bleibt er mit seinem großen, die zarte junge Frau schier erdrückenden Körper direkt bei ihr. Was sonst ein Zeichen von väterlicher Güte wäre, wirkt hier jedoch bedrohlich. Wie er sich im Hotelzimmer lässig seines Hutes, des Trenchcoats und des Jacketts entledigt, lässt auch dies nichts Gutes ahnen. Der physische Angriff auf die junge Frau ist umso unangenehmer zu sehen, da man um seine gewohnte Empathie für seine Mitmenschen weiß.
Maigrets vermeintliche versuchte Vergewaltigung von Nicole jedoch ist nur eine Variation des Motivs der Sexualität: sei es die von Beiden offensichtlich noch immer genossene physische Liebe des Ehepaars Maigret, die Innigkeit der Palmaris und selbst die blinde Leidenschaft von Nicole für Dr. Melan, dessen Sexualität wiederum durch eine von seiner Schwester im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Soldaten erlittene Vergewaltigung, deren Zeuge er wurde, seitdem völlig ins Pathologische abgedriftet ist.
Die sechsjährige Abwesenheit von der Rolle seines Lebens merkt man Rupert Davies keinen einzigen Moment lang an. Wie zuvor in der Fernsehserie geht er auch hier wieder vollkommen dem Part von Jules Maigret auf. Das Zusammenspiel mit Helen Shingler ist wie gewohnt von herzerwärmender Innigkeit. Der treue Lucas (Ewen Solon) wurde von mir nicht vermisst, zumal Neville Jason als Lapointe seinen Part als Maigrets Adlatus hervorragend übernimmt.
Der Kreis des Films schließt sich auf sehr schöne Weise. Zu Beginn stapft Kommissar Maigret eher melancholisch gestimmt an einem alten Angler am Seineufer vorbei, während er am Schluss einen jungen Mann lächelnd darin unterweist, wie er seine Angel am besten hält. Die überaus sympathische Vaterfigur ruht wieder ganz in sich selbst.
“Maigret at Bay” ist ein Juwel, dass als würdiger und hervorragend gelungener Abschluss der leider nur 52 zwischen 1960 und 1963 entstandenen Episoden mit Rupert Davies als Kommissar Maigret gelten kann.
© Text: Manuela Hertel
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