Tumgik
agentdexter · 1 year
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Manchmal, wenn ich ein wirklich gutes Buch lese, denke ich Das kann ich auch. So einen Rhythmus kreieren. Die passenden Worte aneinanderreihen. Alles genau so dynamisch klingen lassen und mitreißend erzählen. Ganz selten, wie bei diesem Buch, durch das ich in den vergangenen Tagen gejagt bin, denke ich nicht nur Das kann ich auch. usw. sondern zusätzlich Das kann ich genau so, weil ich ähnliches erlebt habe. Wenn ich wirklich will, könnte ich konkrete Erlebnisse meiner Vergangenheit in einer Geschichte wie dieser verarbeiten. 
Ich war zwölf oder dreizehn und bin allein mit dem Bus in eines der Nachbardörfer gefahren, weil es dort ein kleines Kino gab. Größere Blockbuster-Kinos waren damals natürlich unerreichbar und wurden nur angesteuert, wenn es mir oder meinen Freunden gelang, irgendjemanden von unseren Eltern davon zu überzeugen, uns in das Großstadt-Kino zu fahren und zwei Stunden später wieder abzuholen. Dieses kleine Kino aber, in dem es nur einen Saal gab, in dem eben immer nur ein oder zwei Filme über mehrere Wochen verteilt liefen, genau dieses Kino war nur eine kurze Busfahrt entfernt. Und so fuhr ich manchmal hin, immer mit Freunden, eigentlich. Nur ein einziges Mal war ich allein dort. Ich kann nicht sagen, welchen Film ich damals unbedingt sehen wollte, aber ich bilde mir heute ein, dass es „Die Maske“ mit Jim Carrey gewesen ist. Jedenfalls saß ich irgendwann allein in dem nicht sehr großen Kino-Saal dieser ostdeutschen Kleinstadt, die vermutlich nur doppelt so groß war wie ein Dorf. Ich saß also dort und sollte nicht viel vom Film mitbekommen an diesem Tag. Also irgendwie schon, aber nicht so, dass ich danach etwas über die Qualität des Films hätte sagen können. Vermutlich war es gar nicht „Die Maske“, der da vor mir auf die Leinwand projiziert wurde, aber ich saß eben allein im Saal und irgendwann saß jemand neben mir. Und dann spürte ich eine Hand zwischen meinen Beinen, die nicht meine war und die Hand bewegte sich, formte, knete, tat jedenfalls irgendetwas, von dem ich damals nicht wusste, was es war. Ich spürte natürlich auch, dass mein Genital unter der Hose auf die intensiven Berührungen der fremden Hand reagierte. Ich wagte nicht, meinen Kopf nach links zu drehen, wo der zur Hand gehörende Körper sich befand. Irgendwann wurde mein Atmung schneller und mein Glied, das angeschwollen war, erschlaffte plötzlich, nachdem ich von einem Gefühl überrollt wurde, das ich zuvor noch nie gefühlt hatte. Daraufhin lies die Hand los, der Körper drückte sich aus dem Sitz neben mir und verließ den Saal. Ich ging, noch während der Film lief, auf Toilette, weil ich dachte, ich hätte in die Hose gemacht. Auf der Toilette putzte ich mich im Schritt, wo ich auch etwas Blut wegwischen musste, das zu sehen mich kurz schwindelig machte. Jedenfalls ging ich zurück in den Saal und schaute den Film zu Ende.
An dieser Stelle hätte auch diese kleine unschöne Episode zu Ende sein können, war sie aber nicht. Einige Wochen später hatte meine Schulklasse einen Erste-Hilfe-Kurs. Wir hatten im Klassenraum alle Tische an den Rand geräumt und die Stühle im Kreis aufgestellt, in deren Mitte uns ein Rettungssanitäter an einer Übungspuppe u.a. die Mund-zu-Mund-Beatmung zeigte. Irgendwann wurde ich in den Kreis gerufen, um zu zeigen, ob ich verstanden hatte, was wir alle gerade gelernt hatten. Also beugte ich mich über die Puppe und der Rettungssanitäter kniete neben mir. Es muss sein Duft gewesen sein – und an dieser Stelle könnte ich schummeln und irgendeine Duftnote erfinden, aber die Wahrheit ist, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, was ich gerochen hatte – jedenfalls riss mich dieser Duft zurück in den Kinosaal, zurück in den Sitz und ich wusste augenblicklich, dass der Rettungssanitäter im Kino neben mir gesessen hatte. Ich hatte damals keine Einordnung des Vorfalls vorgenommen, kein Urteil darüber gefällt. Ich kannte noch keine Begriffe wie Übergriff oder Vergewaltigung. Auf meinem inneren Radar hatte ich kein Werte, die mir halfen, das Geschehene einzuordnen. Was aber wohl instinktiv geschehen sein musste, war ein Wegsperren des Erlebten. Erst dort auf dem Boden, mit der Übungspuppe unter mir und dem Mann neben mir erkannte ich, dass der Rettungssanitäter der Mann war, der auch im winzigen Tickethäuschen am Kino gesessen hatte. Irgendwie verstand ich auch, dass der Mann so sicher wusste, dass ich allein im Saal sein würde und er deshalb ohne Gefahr zu mir kommen konnte. Tatsächlich kann ich nicht sagen, wie mein kindlich-jugendlicher Verstand es schaffte, all diese Zusammenhänge damals so präzise zu erkennen und die Situation so stimmig zu analysieren. Aber beide Situationen und die damit verbundenen Emotionen mussten, vermutlich aus Selbstschutz, tief in mir weggesperrt worden sein. Erst viele Jahre später, im Studium, lag ich neben einer Frau, die mir von Erfahrungen mit übergriffigen Männern erzählte und dabei weinte. Ich weinte mit ihr, erst aus Mitgefühl und dann, weil sich – und ich kann es nicht anders beschreiben als mit diesem überstrapazierten Bild – in mir eine Tür zu einem Erinnerungsraum öffnete. Einem Raum, in dem nur ein einziger Kinosessel im Boden verschraubt war, in dem ich augenblicklich Platz nahm und starr vor Ungläubigkeit, auf einer Leinwand beide Erinnerungen wie Videosequenzen im Schnelldurchlauf anschaute. Erst da konnte ich emotional, physisch und psychisch einordnen, was mir damals passiert war. 
In Mein kleines Prachttier wird – das dürfte nun vermutlich niemanden mehr überraschen – die Geschichte eines pädophilen Mannes und dem Mädchen erzählt, in das er sich verliebt und von dem er glaubt, genau so auch zurückgeliebt zu werden. Rijneveld erzählt diese unfassbar erschütternde Geschichte aus der Tätersicht. Zart und poetisch, wie man das sonst nur von Liebesromanen kennt – ein stilistischer Kniff, der das Ungehörige noch erschreckender macht. Immer wieder gibt es Momente, die sich anfühlen, als würde man in den Arm gezwickt werden. Denn es ist nicht richtig, was in dieser romantisch erzählten Geschichte passiert. Aber weil es erzählt wird, wie es erzählt wird, und Rijneveld absolut großartig beschreibt, Szenen und Momente aufbaut und Figuren in ihren Beziehungen zueinander so plausibel definiert, gelingt ihr der Trick, es einen über lange Zeit alles als gar nicht so schlimm anfühlen zu lassen. In der Heftigkeit, mit der im letzten Drittel das ganze Ausmaß und die Grausamkeit über uns Lesende hereinbricht, ist diese Geschichte dann doch konsequent wie ein sehr langsam abgespieltes Video, das eine geöffnete Cola-Flasche zeigt, in die ein Mentos hineingeworfen wurde. 
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agentdexter · 1 year
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Drei Vorsätze für dieses Jahr habe ich gestern Abend auf die erste Seite meines Notizbuchs geschrieben. Einer davon lautet schlicht und ergreifend „wieder bloggen“. Ich habe lange nichts mehr geschrieben, vor allem nicht regelmäßig. Denn das habe ich vor der Corona Zeit nahezu wöchentlich getan. Dass es jetzt nahezu mehr als drei Jahre fast still hier war, fühlt sich im Grunde auch gar nicht seltsam an. Was hätte ich auch erzählen können? Ich erledige meine Arbeit aus dem Homeoffice, lese viel und habe eine Frau kennengelernt. Ach ja, und einen Hund habe ich. Und weil ich in diesem Moment an ihn gedacht habe, musste ich zu ihm gehen, streicheln und mich von ihm ablecken lassen.
Aber zurück zu meinem Vorhaben: Noch habe ich keine Ahnung, womit ich meinen Vorsatz in die Realität umsetze. Über was könnte ich bloggen? Ganz ehrlich? Ich lese bei und von anderen, wie sie die Übernahme Twitters durch Elon Musk sehen. Und klar kann man sich darüber Gedanken machen. Warum auch nicht? Menschen, die für On- und Offline-Magazine schreiben, machten das seit Wochen. Man kann im Grunde über alles schreiben. Ich weiß das. Aber ich frage mich: Interessiert das überhaupt noch jemanden? Hat uns die Pandemie nicht eher wieder gezeigt, dass andere Dinge wichtiger sind? Also etwa sich mit sich selbst zu beschäftigen, einem echten Hobby nachzugehen, womit ich im Wesentlichen etwas wie das Erlernen eines Instruments meine, Brot backen (ja, doch, ich halte das wirklich für eine Kunst) oder einfach noch so viele Bücher zu lesen wie es die verfügbare Zeit zulässt. Aber zu bloggen? Wer geht heute noch ins Internet, um sich die Gedanken von anderen Menschen durchzulesen? Das müssen vermutlich wirklich wirklich WIRKLICH relevante Gedanken sein. Und über Musik will ich nicht mehr schreiben, es sei denn, ich brenne lichterloh dafür. Übers Daten kann ich nicht mehr schreiben, weil ich nicht mehr date. Ich könnte jetzt über das Paarsein sinnieren. Aber ehrlicherweise wird dabei gar nicht viel zustande kommen, so „normal“ erscheint mir das, was ich Tag für Tag erlebe und als sehr angenehm empfinde. Abgesehen davon ist es etwas anderes, ob ich über die zum Großteil irritierenden Begegnungen mit fremden Frauen schreibe, von denen ich weiß, dass ich sie nie wiedersehen werde oder ob ich über mich und die Frau an meiner Seite schreibe. Meine Urteile, Beobachtungen und Analysen über uns und somit auch sie halte ich für so intim, dass ich mich schwer tue, davon hier zu erzählen. Wobei ich gerade Autor*innen bewundere, die den Mut aufbringen und autobiographisch über ihr Leben schreiben. Die es regelrecht sezieren, so wie etwa Karl Ove Knausgaard. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob dabei gleich eine mehrbändige Reihe herauskommen muss, die zum Teil einzelne Familienmitglieder bloßstellt. Aber das nenne ich eben schonungslos ehrlich. Ein Experiment, mit dessen Ausgang am Ende vielleicht selbst nicht zufrieden ist.  Die Frage ist, ob ich das könnte. Und will. Und dabei wäre es mir komplett egal, ob es jemanden gibt, die oder der sich dafür interessiert. Ich weiß, ich weiß. So sollte es sein, immer. Aber es gibt Content, von dem ich mir eher wünsche, dass er wahrgenommen wird, als anderer. Und wenn es richtig persönlich und intim wird, hätte ich tatsächlich kein Problem damit, wenn die Klickzahlen gering ausfallen.  Aber ich drehe mich im Kreis, ich habe noch keine Ahnung, was oder über was ich hier schreiben könnte. Vielleicht sollte ich diesen Blog auch schließen und irgendwo anders noch mal ganz von vorn anfangen. Aber dann denke ich auch wieder: Das ist, als würde ich mir die Haare abschneiden und asche-blond färben lassen. Das macht mich nicht zu einem neuen Menschen und die Seiten auch nicht weißer, um sie zu füllen. Das kann ich überall – so wie ich meine Haare auch im ersten Corona-Jahr schon mal asche-blond gefärbt habe. Das war toll. Warum habe ich damit eigentlich aufgehört? 
Neulich habe ich Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ im Keller gefunden. Eine knapp 100-seitige Erzählung, die ich nie gelesen habe, aber kenne. Mich hat die Idee der anderen Seite in uns selbst immer gefallen. So wie Mr. Hyde für Dr. Jekyll ausleben kann, was dieser sich nicht zu tun traut. Vielleicht brauche ich meinen Mr. Hyde. Keinen, der mordet. Also nicht im echten Sinne zumindest. Aber vielleicht einen, der so etwas wie falsche Ängste und Scham umbringt, um zumindest schreibend mehr zu wagen. 
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agentdexter · 1 year
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Wann steht der große Umzug nach Frankreich an? *loveisintheair*
Vermutlich nie. Zumindest war das bisher kein Thema. Außerdem ergäbe das eine Geschichte, die nun wirklich niemand spannend findet: Ein Ossi in Fronkroisch.
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agentdexter · 1 year
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/tEstbILd%
Wo anfangen, wenn man anfangen will? Reicht es, überhaupt daran zu denken, (wieder) loszulegen? Mein letzter Text hier liegt neun Monate zurück. Im schnelllebigen Neuland sind das locker mindestens 900 Jahre. Im echten Leben genug Zeit, um ganze Ländergrenzen zu verschieben. Und irgendwie ist selbst das in den vergangenen Monaten passiert. 
Aber eigentlich habe ich wesentlich länger nicht mehr geschrieben. Mit Beginn der Pandemie habe ich irgendwann aufgehört zu bloggen. Obwohl vielleicht gerade in dieser Phase viele Eindrücke und Überlegungen durchs Aufschreiben hätten verarbeitet werden müssen. Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Auch über Bücher und Musik habe ich so gut wie gar nicht mehr geschrieben. 
Und jetzt? Jetzt hat Elon Musk Twitter übernommen und scheint es kaputtspielen zu wollen, tumblr lässt mittlerweile wieder sexuell aufgeladenen Bild-Content zu, ich bin mit einer Frau zusammengezogen, arbeite von Hamburg aus für eine Stuttgarter Werbeagentur (Homeoffice olé!), „Wetten dass…?!“ läuft wieder im ZDF, Russland versucht seit mehr als acht Monaten die Ukraine zu erobern und die Preise für ungefähr alles steigen ins Unermessliche. 
Also zurück zum Anfang: Wo anfangen, wenn man anfangen will?
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agentdexter · 1 year
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agentdexter · 2 years
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Ich habe das hier sehr lange nicht mehr gemacht: schreibend über den aktuellen Status meines Lebens nachgedacht. Im Spätsommer 2012 bin ich von Leipzig nach Hamburg gezogen. Nach einem Studium, den ersten Lieben, dem ersten richtigen Job und rückblickend wirklich großartigen elf Jahren in dieser Stadt dank fabelhafter Freundschaften sollte es plötzlich in eine andere Stadt gehen. Noch dazu für einen Job, für den ich, wenn man es genau nimmt, nicht studiert hatte. Angst hatte ich keine, aber ganz sicher war ich unruhig – so, wie man das immer ist, wenn man ahnt, dass einem die nächste große Etappe im Leben bevorsteht.
Im ersten halben Jahr hier in Hamburg wohnte ich noch zur Untermiete, bevor ich wusste, dass ich an dem Punkt für eine eigene Wohnung bin. Diese fand ich schnell im Frühling 2013. Sie war runtergekommen, unbeziehbar im Grunde und musste komplett renoviert werden. Ich weiß noch, dass ein damaliger Arbeitskollege überrascht war, als er erfuhr, dass ich das allein mit meinem Vater machen wollte, statt das von Handwerkern machen zu lassen. Also kam mein Vater für zehn Tage nach Hamburg, wir tapezierten, verlegten Laminat und richteten die Küche ein. Er fuhr irgendwann, wir beide waren ziemlich kaputt von den langen anstrengenden Tagen, und ich strich nach und nach noch die Räume der Wohnung. In den Folgemonaten fing ich an, es mir gemütlich zu machen, wollte nicht irgendwelche Möbel kaufen, nur damit schnell alles in der Wohnung steht, sondern mir nur anschaffen, was mir wirklich gefällt. Am Anfang habe ich in einem leeren Wohnzimmer geschlafen, in dem nur eine Matratze auf dem Boden lag. Und es war ein großartiges Gefühl, eine Zeit lang in der eigenen und neu renovierten, im Grunde komplett leeren Wohnung, aufzuwachen und nach und nach durch Möbel und neue Erlebnisse alles zu meinem Zuhause machen zu können.
Die Jahre vergingen, ich baute mir einen neuen kleinen Freundeskreis auf und hatte unzählige von Apps arrangierte Dates mit Frauen, mit denen sich sehr oft schon das erste Zusammentreffen nicht richtig anfühlte. Bis vergangenes Jahr Mai. Ich traf diese Französin, die es bis heute mit mir aushält. Und ich benutze das Verb „aushält“ natürlich absichtlich abfällig mir selbst gegenüber, obwohl ich insgeheim hoffe, dass ich – zumindest für sie – dann doch nicht so schwer zu ertragen bin. In einigen Monaten werde ich 40 und habe keine Angst davor. Nun sagt man gemeinhin, dass Männer ohnehin weniger Probleme mit dem Älterwerden hätten. Aber mal ehrlich: Wir alle kennen auch die Männertypen, die irgendwann anfangen richtig seltsam zu werden, nur weil sie glauben, dies und das würde sie „jung“ halten. Für mich ist die 40 eine Zahl wie jede andere – anders als die Frau an meine Seite. Sie ist so besonders, dass ich mir schon jetzt nicht mehr vorstellen kann, wie es ohne sie ist.
Seit Herbst vergangenen Jahres teile ich mir mit einer Freundin einen Hund. Die Entscheidung wurde quasi über Nacht gefällt und meine Partnerin war sofort begeistert von dem Plan. Von Anfang an hat sie den fast ein Jahr alten Mischling als Teil meiner und somit unserer gemeinsamen Welt akzeptiert. Etwas, das ich nicht als selbstverständlich ansehe. Das macht ihre Begeisterung und Freude für und über den Hund für mich umso wertvoller. Juri wurde aus einem Tierheim in Kroatien oder Rumänien gerettet, ich verwechsel da ständig was. Vielleicht ist er auch ein Außerirdischer, wer weiß. Das Chaos, das er manchmal verursacht, wäre damit zumindest erklärt. Jedenfalls haben die Frau an meiner Seite und ich noch Anfang Dezember die Ersatzschlüssel der Wohnungen miteinander getauscht, und Silvester darüber gesprochen, dass wir 2022 nach einer gemeinsamen Wohnung suchen könnten. Alles war entspannt, bis eine Freundin schrieb, dass sie aus ihrer 3-Zimmer-Wohnung ausziehen wird und Nachmieter sucht. Ich kenne die Wohnung, sie ist wunderschön, hat einen tollen Schnitt, einen Balkon, einen Gasherd (in diesen Zeiten eigentlich finanziell eher ein Desaster), ist topsaniert und (man mag das kaum glauben) bezahlbar. Also haben wir uns sofort für die Wohnung beworben. Es gab noch zwei weitere Interessenten, ein Kennenlernen mit dem Vermieter in der vergangenen Woche und die Entscheidung, dass wir die Wohnung bekommen.
Und nun? Wird es vermutlich wieder einige Zeit chaotisch in meinem Leben, weil zwei Umzüge in eine Wohnung koordiniert, vieles abgemeldet oder umgemeldet, Nachmieter gefunden, Möbel und manche Geräte neu gekauft werden müssen und alles das macht mich: unruhig. Dieses Gefühl der kurzzeitigen Entwurzelung macht mich fertig und breitet sich im ganzen Körper aus. Zum Glück wirkt das Schnarchen des Hundes so beruhigend, dass ich mir von seiner Gelassenheit vielleicht ein bis zwei Scheiben abschneiden werde. Wenn ich nur an den ganzen Stress denke, werde ich jedenfalls schon hundemüde.
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agentdexter · 2 years
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Lesezeichen 03/21
Diese Pandemie macht mich fertig. Ich lese, aber schreibe nicht mehr. Weder blogge ich über Musik, über gelesene Bücher, über Beobachtungen oder anderen Unsinn. Ich bin einfach da. Und auch wenn das die meiste Zeit total ausreicht, ist es manchmal ganz schön, von Erfahrungen zu erzählen. Wie zum Beispiel diesen sieben Büchern.
„Just Kids“ von Patti Smith, längst ein moderner Klassiker, ist eine besondere Biographie. Eine, die Smith untertitelt mit der Zeile „Die Geschichte einer Freundschaft“. Gemeint ist die gemeinsame Zeit mit dem Künstler Robert Mapplethorpe, die im New Yorker Sommer 1967 beginnt. Beide lernen sich kennen, sind 20 Jahre alt, haben keinen Cent in der Tasche, schlagen sich irgendwie durchs Leben, fangen eine Beziehung an, halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und zelebrieren das Künstlerdasein. Das liest sich zuweilen hochpoetisch, einfach wunderschön, atmosphärisch und verdichtet auf den engen Radius, der beide umgab. Nie kommt Smith vom erzählerischen Weg ab, schwadroniert über Promis und andere Begegnungen. Fast schon beeindruckend fokussiert bleibt sie bei der Geschichte dieser einen besonderen Freundschaft, die fasziniert und berührt.
Ganz anders ist Yaa Gyasis Debüt „Heimkehren“, dessen Veröffentlichung nun schon einige Jahre zurückliegt. Die Idee hinter dem Roman ist wirklich fabelhaft und nötigt mir einiges an Respekt ab: Sie erzählt die Geschichte einer Familie anhand eines Stammbaums, der bis ins Ghana des 18. Jahrhunderts in die Zeit des Sklavenhandels zurückreicht. In kleinen Episoden wandert sie durch die Verzweigungen dieser Familiengeschichte, springt in Ausschnitten an die Lebenspunkte verschiedener Kinder und deren Kinder – ohne auszuschweifen oder sich in Details zu verlieren. Möglich, dass man sich am Ende eines Ausschnitts mancher Figur wünscht, noch mehr zu erfahren, tiefer eintauchen zu dürfen. Aber Gyasi ist konsequent in ihrer Art des Erzählens, was dem komplexen Gebilde gut tut. Lange wurde ich nicht mehr so gut und so besonders unterhalten. Ein historisches Panorama voller Zeitgeschichte, cleverer Verknüpfungen und Ideen, das man definitiv gelesen haben sollte.
Und noch ein Debüt, aber ein noch sehr aktuelles: „Die Männer in meinem Leben“ von Sofia Rönnow Pessah ist genau das, woran man denkt, wenn man den Titel liest. Wobei ich mich auch gefragt habe, ob das wirklich sein kann. Und dann, als ich die ersten Seiten hinter mir hatte, erfahren durfte, dass das tatsächlich sein kann. Pessah erzählt nahezu chronologisch die Männerbegegnungen ihrer Hauptfigur Sonia. Wie die Autorin studiert auch Sonia Jura und wegen des einen Buchstaben, durch den sich Figuren- und Autorinnen-Name unterscheiden, fiel es mir vielleicht letztendlich so schwer, mich nicht immer wieder zu fragen, ob sie das Beschriebene wirklich erlebt haben könnte. Denn Sonia hat viele Männer, mit denen sie – wer hätte es gedacht – eine Leere in ihrem Leben zu füllen versucht. Ich mag gut erzählte einfache Geschichten, wie diese. Das Eintauchen in eine komplexe, aber normale Figur, deren Gedanken und Standpunkte zu erfahren. Ein absolut empfehlenswertes Debüt, das einem beim Lesen ständig zwischen Lachen, Mitleiden und Irritation schwanken lässt.
Auch Ocean Vuong hat 2019 mit „Auf Erden sind wir kurz grandios“ sein Debüt vorgelegt. Ein, wenn man so will, Migrationsroman eines Sohnes, in Gestalt eines Briefes an seine Mutter. Der Roman hat einige Preise gewonnen, wurde hochgelobt von der Presse – und doch konnte ich mich nicht so sehr dafür begeistern wie für die vorher genannten Debüts. Vielleicht liegt es an dem erkennbaren Anspruch Vuongs, eine besondere Sprache zu finden, um die Eindrücke und Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend zu schildern: die Mutter, die ihren Sohn innig liebt, aber zum Teil auch vor gewaltsamen Reaktionen nicht zurückschreckt, vielleicht aus Überforderung, vielleicht aus der eigenen Historie heraus; es bleibt Interpretation. Letztlich hätte ich mir mehr Stringenz, mehr Klarheit und weniger Poesie gewünscht. Und doch völlig nachvollziehbar ein wichtiges Buch in diesen Zeiten.
„Die Liebe im Ernstfall“ ist ein Roman, der in Leipzig spielt. Schon deshalb hatte ich große Freude durch die Straßen meiner Studienzeit den Figuren dieses Romans auf der Spur zu bleiben. Daniela Krien erzählt aus der Perspektive verschiedener Figuren eine große Geschichte. Nicht unbedingt über die Liebe, wie es der Titel suggeriert, sondern über Beziehungen, Abhängigkeiten, Veränderungen und Weiterentwicklungen. Fünf Frauen stehen dabei im Fokus. Krien versetzt sich mit großer Präzision in jeden dieser unterschiedlichen Frauentypen und versteht es, die Beweggründe für das individuelle Handeln und nachvollziehbar zu erzählen. Auch wenn der Roman mittlerweile drei Jahre alt ist, würde es mich nicht wundern, wenn er in den Folgejahren als klassischer Episodenfilm auf die große Leinwand findet.
Mary Gaitskill hat mit „Das ist Lust“ eine Kurzgeschichte zur #MeToo-Debatte geschrieben. Eine, von der ich kaum etwas erzählen kann, weil sie mit ihren knapp 110 Seiten wirklich sehr kurz ist. In deren Mittelpunkt stehen ein erfolgreicher Verleger und eine Mitarbeiterin, die als eine von wenigen, nach seltsamen Übergriffen, die Freundschaft zu dem kuriosen Alphamann sucht. Ehrlich gesagt wusste ich beim Lesen nicht, wie ich die Geschichte finden soll. Die männliche Hauptfigur ist kein „typischer“ Mann, kein Macho, kein Hallodri, wie man es womöglich erwarten würde. Der Guardian nennt den Roman „differenziert“, was ich für weit übertrieben halte. Gaitskill kreiert vielmehr einen Mann, der vielleicht Fehler gemacht hat in Bezug zu seinen weiblichen Angestellten – aber vielleicht auch nicht. Das zu entscheiden liegt im Erfahrungshorizont jedes Menschen, der diese kurze Geschichte liest. Vielleicht ist „Das ist Lust“ wirklich ein wichtiger Beitrag zur Debatte. Er greift aber meines Erachtens nach zu kurz, um echte Denkanstöße zu geben und nachhaltig zu beeindrucken.
Wirklich beeindruckt war ich in diesem Buchjahr von „Die Anomalie“ von Hervé le Tellier. Der Franzose hat damit in seiner Heimat den wichtigsten Literaturpreis überhaupt gewonnen. Überraschend ist das nicht, denn der Plot des Romans ist wahnwitzig. Ein Flugzeug von Paris nach New York gerät in einen Sturm, begleitet von Blitzen und seltsamen Unwettererscheinungen, kann aber sicher am Zielflughafen gelandet werden. Die Geschichten ausgewählter Figuren werden von nun an erzählt, bis – ja bis das gleiche Flugzeug einige Monate später wieder landet. Ein Doppelgänger quasi: die Maschine inklusive Personen an Bord. Plötzlich gibt es Menschen doppelt und die Erzählung wird zum psychologischen Pageturner, zum Krimi, zum Abenteuerroman, zur Gesellschaftssatire. Definitiv unter meinen Top3-Büchern 2021.
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agentdexter · 3 years
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Lesezeichen 02/21
Kurzzusammenfassung der vergangenen Wochen: Ich bin dabei, mich zu verlieben, ich esse mich durch Frankreichs Käsesorten und ich lese viel. Ein paar der gelesenen Bücher möchte ich nachfolgend vorstellen – nicht, ohne einige Worte darüber zu verlieren.
Taiye Selasis Diese Dinge geschehen nicht einfach so ist 2013 auf Deutsch erschienen und hat sich vermutlich ganz gut verkauft (ich habe die 5. Auflage des Hardcovers gelesen). Der Plot der Geschichte ist folgender: Eine Familie, die aus 6 Menschen besteht und deren Wurzeln allesamt in Afrika liegen, leben zum Erzählbeginn auf der ganzen Welt verstreut. Dann stirbt der Vater und es kommt zu einem Wiedersehen. Selasi blickt zurück in die Vergangenheit der erwachsenen Kinder, in deren aktuellen Lebenssituationen, die unterschiedlichen Lebensentwürfe, Ansprüche an das jeweilige Leben und auf kleine und große Dramen, die weitaus weniger einzigartig sind, als sie auf den ersten Blick scheinen. Ich schäme mich fast ein wenig, mit dem Roman so gar nicht klargekommen zu sein – vor allem, weil er gute Kritiken und einhelliges Lob auch von der internationalen Leserschaft bekommen hat. Der Sound, die Erzählstimme, der Rhythmus – wie man das auch immer für sich bezeichnet – konnte mich einfach nicht abholen und fesseln noch viel weniger. Selten gab es Passagen, durch die ich wieder reingeholt wurde in diese besondere Familiengeschichte, nur um dann wieder den Faden zu verlieren inmitten zahlreicher entrollter Wollknäuel. Unfähig, den Anschluss zu finden, habe ich dann weitergelesen, aber vermutlich letztlich doch gut 60-70% des Romans „verpasst“. Er hat in meinem Kopf einfach nicht stattfinden können, da war kein Kopfkino. Ich hatte keine Bindung zu den Figuren, dadurch kaum konkrete Szenen vor Augen. Ein ganz schreckliches Gefühl, sage ich euch. Es fällt mir schwer zu sagen, woran das gelegen haben könnte. Vermutlich gibt es auch gar keinen besonderen Grund. Wenn B��cher wie Menschen sind, dann gilt für sie vermutlich ebenfalls das, was uns auch von Begegnungen mit Menschen bekannt vorkommt: Mit manchen kommt man einfach nicht klar.
Ganz anders erging es mir mit Blauer Hibiskus von Chimamanda Ngozi Adichie. Wir haben eine junge Ich-Erzählerin in Nigeria, aus gutem Hause. Themen sind neben einem krankhaft religiösen Vater, einer devoten Mutter, den politischen Unruhen und, angestoßen durch die Tante des erweiterten Familienkreises, der daraus resultierende Identitätsverlust, den eine westlich geprägte und somit im Grunde fremde Sozialisierung mit sich bringt. Vermutlich handelt es sich um einen Jugendroman, also keine ganz klassische Coming-of-Age-Geschichte wegen ihres besonderen Settings. Dennoch hat mir der Roman sehr gut gefallen, weil die Stimme der naiven Ich-Erzählerin für einen besonderen Zugang zu diesen relevanten Inhalten sorgt und man sich dem Sog, den die Verkettung aller Handlungsstränge mit sich bringt, kaum entziehen kann. Wer bisher um diesen Roman einen Bogen gemacht hat, kann – bei Interesse an anderen Kulturen und Lebenssituationen – hierhin einen spannenden und überaus emotionalen Einblick in Inhalte finden, die die Sicht auf die Welt absolut bereichern.
In Die Chance von Stewart O’Nan begleiten wir ein Paar um die 50 (vermute ich), dessen Ehe am Ende ist. Die Kinder leben nicht mehr zu Hause, der Mann hat seine Frau irgendwann mal betrogen, die Frau hat es toleriert und obwohl er seinen Fehltritt aufrichtig bereut, scheint die Beziehung gescheitert. Zudem wird das gemeinsame Vermögen knapp, also verkaufen beide Haus und Grundstück. Statt danach getrennte Wege zu gehen, machen sie einen letzten gemeinsamen Urlaub. Natürlich passiert hier einiges Unerwartetes, es gibt gnadenlos aufrichtige Dialoge zwischen den Beiden und O’Nan schafft es, glaubhaft ins Innenleben beider Hauptfiguren einzutauchen. Am Ende fällt es schwer, einen der beiden als ausschließlich „gut“ oder „schlecht“ abzutun. Und genau darum geht es vermutlich auch. Beide haben ihr Bestes gegeben und womöglich hat es einfach nicht gereicht. Wobei: Ganz so sicher ist das nicht, denn der Urlaub, den vor allem die Ehefrau ziemlich widerwillig antritt, stimmt beide nachdenklich und endet in einem wüsten Glücksspiel-Szenario, das mich unweigerlich an den deutschen Ausspruch „Geld oder Liebe“ hat erinnern lassen. Wie die Geschichte der beiden endet, will ich natürlich nicht verraten.
Es ist nun einige Zeit her, dass ich Benedict Wells Hard Land gelesen habe. Und was soll ich sagen? Ich habe im letzten Drittel mit Tränen in den Augen über dem Buch gesessen und mich alles in allem verdammt gut unterhalten gefühlt. Hard Land ist eine absolut klassische Coming-of-Age-Geschichte, an der wir Lesenden im Grunde einen Sommer lang teilhaben dürfen. Wenn man so will, ist Wells besonderer Kniff jedoch der, dass er an der Stelle weitererzählt, wo vergleichbare Geschichten enden. Wells blickt über diesen einen alles verändernden Sommer hinaus. Und allein das einmal mitzubekommen, ist interessant. Überhaupt steckt dieser Roman voller kluger Sätze, ist rührend, witzig und im allerbesten Sinne kurzweilig. Ich hatte große Freude beim Lesen und kann dieses Buch für die letzten Tage des Sommers 2021 nur empfehlen.
Eine ganze Welt von Goldie Goldbloom nimmt in meinen Leseerfahrungen eine besondere Stellung ein. Wir alle lesen ja Geschichten, die in bestimmten Settings spielen, und deren Figuren ein gewisses Alter haben. Rückblickend habe ich (vor diesem Buch) vielleicht zwei Geschichten gelesen, in denen alte Menschen die Hauptrolle gespielt haben. Das mag vermutlich an uns selbst, also den Leser*innen, liegen. Wir suchen Identifikationsfiguren und glauben, diese nur in Menschen unseres jeweiligen Alters zu finden. In Eine ganze Welt ist die Hauptprotagonistin Mitte 60, glücklich verheiratet und Jüdin. Die Familie ist riesengroß, alle Kinder selbst schon Eltern und plötzlich erfährt diese alte Dame, dass sie erneut schwanger ist. Für sie ein Unding, eine Unmöglichkeit, ein Dasdarfdochnichtwahrsein. Ihrem Mann erzählt sie zunächst nichts und so begleiten wir sie nach dem Arztbesuch zurück in ihre Welt. Eine Welt der jüdischen Gemeinde, den Bräuchen, den Festen, den Menschenmengen, die zusammenkommen und vor denen im Grunde nichts geheimzuhalten ist. Nun ringt diese alte Dame die gesamte Geschichte über mit sich, ob sie jemanden einweihen soll, wenn ja wen und ob sie das Kind überhaupt bekommen soll, welche Einschränkungen das in ihrem Alter noch einmal mit sich brächte und – natürlich – wie wohl ihr Umfeld auf diese Neuigkeiten reagieren wird. Das alles mag in der Kurzzusammenfassung nicht sonderlich interessant klingen, liest sich aber schlussendlich phänomenal. So sehr, dass ich gern noch 300 weitere Seiten davon gelesen hätte. Aber im Grunde ist dieser Roman perfekt so wie er ist, denn er ist genau das, was er verspricht: eine ganze Welt.
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agentdexter · 3 years
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Sommer, Disco, Drama – endlich
In einer Sache könnte mir Jack Saverotti kaum näher sein: Der gebürtige Brite mit italienischen Wurzeln hat die Schweiz zu seiner Wahlheimat gemacht. Was das angeht, bin ich mental voll auf seiner Wellenlänge. Darüber hinaus ist mir dieser Mann ein Mysterium. Spotify listet seit 2007 elf Alben dieser Reibeisenstimme, wobei drei davon ehrlicherweise einfach mal mit einigen Monaten Abstand als Special-Edition und um zusätzliche Aufnahmen erweitert erneut erschienen sind. Alles das mag nach großer Geldmacherei klingen, aber offenbar funktioniert dieses Prinzip. Und wirklich verwunderlich ist es letztlich auch nicht, denn der 38-Jährige ist längst im Pop-Olymp angekommen und kann sich das offenbar erlauben. Mit Europiana teilt er nun sein neuestes Album mit uns.
Auf dem Cover steht oben groß der Titel, als wäre es der Soundtrack eines Arthouse-Kinofilms, darunter sind Berge und das azurblaue Meer zu sehen. Davor in zarter Unschärfe schulteraufwärts der Mann persönlich: Saverotti. Natürlich alles nur gespielte Bescheidenheit, denn wenn er eines nicht ist, dann „unscharf“. Und keine Kamera der Welt würde an ihm vorbeiknipsen, jede Wette. Europiana klingt vom ersten Song an nach Côte d’Azur, nach Cabrio-Fahrten, Wind in den Haaren, Sonne auf der Haut, Unbeschwertheit, aber eben auch – er kann es einfach nicht lassen – nach dem ganz großen Drama. Da braucht es die auf Hit getrimmte makellose Single Who’s Hurting Who im Grunde nicht.
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Ähnlich verletzt singt sich der Dandy seine Trauer in When You’re Lonely von der Seele, weil diese eine Frau sich immer nur dann bei ihm meldet, wenn sonst kein anderer Mann Zeit hat für sie. Sachen gibt’s. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Europiana bietet allerfeinsten 70s-Sound, kredenzt wie ein eisgekühltes Raffaello, von dem ich hunderte wegfuttern könnte, bis mir übel wird davon. So ähnlich ergeht es mir vermutlich auch mit diesem Album. Ich werde es mir überhören, weil es so angenehm surrt, blubbert und auf der Höhe der Zeit produziert ist: Dancing In The Living Room ist ein Grower wie er im Musikbuche steht. Aber was soll ich sagen? Wir hatten ja lange nichts Gutes wegen dieser bescheuerten Pandemie. Ein bisschen Leichtigkeit, Wind in den Haaren und Sonne auf der Haut ist vermutlich genau das, was uns gefehlt hat. Würde doch nur ein bisschen was davon auch ins Herz vordringen und bleiben, dann kämen wir wohlbehütet durch den Winter. Aber bis dahin gibt es vielleicht die Special-Edition dieses Sommeralbums.
Jack Savoretti // Europiana // VÖ: 25. Juni 2021
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Jessie Ware hat genau das Mitte Juni gemacht und einfach ihr im vergangenen Jahr veröffentlichtes Album What’s Your Pleasure? in der „Platinum Pleasure Edition“ noch einmal in die Waagschale des Musikgeschäfts geworfen. Weil aber das vergangene Jahr relativ arm an guten Veröffentlichungen war, Ware aber dennoch mit besagtem Album eine echte Pop-Perle ins Tageslicht befördert hat und Alben ja meist eh nur noch auf eine bevorstehende Tour hinweisen, sei ihr verziehen. Die Tour der Britin ist Ende des Jahres auch tatsächlich geplant, wenn ihr nicht eine neue Virus-Variante einen Strich durch die Rechnung macht. Sieben neue und eine Remix-Version eines Songs des Ursprungsalbums haben es auf das erweiterte Album geschafft. Und ich sage es mal so: Wenn wir ab Herbst wieder in unseren Wohnungen bleiben müssen und maximal zwei Personen eines weiteren Haushalts einladen dürfen, bietet dieses Album genau die Musik, mit der wir in den heimischen Wänden Club-Atmosphäre perfekt imitieren werden können, versprochen. Zum Schluss noch eine Bitte: Gebt dieser Frau einfach alle Grammys. Mir fällt aktuell niemand von der Spielwiese des Pop ein, der sie mehr verdient hätte.
Jessie Ware // What's You're Pleasure? (The Platinum Pleasure Edition) // VÖ: 11. Juni 20021
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Besonderes Augenmerk möchte ich noch auf die deutsche Band JEREMIAS lenken, die mit golden hour unlängst ihr Debütalbum veröffentlicht hat und jedes bisschen Aufmerksamkeit verdient hat. Nach erfolgreichen EPs und Singles war es nun aber auch wirklich an der Zeit dafür. Wunderschön doppelbödige Texte in treibsandig-verträumte Melodien gebettet, mit allerlei Anleihen aus den 80ern. Mitunter gibt es verliebte Grüße aus dem Club Tropicana – alles das ist aber eine grandiose Täuschung wie unter anderem der Song hdl beweist. Was Kennenlernen, Verlieben und Beziehung heute viel zu häufig bedeutet, machen die vier Jungs aus Hannover zu ihren Themen. Würde die Jugend von heute diesen Disco-Funk hören, wäre es vermutlich in vielerlei Hinsicht besser um sie bestellt. Lange klang Melancholie nicht mehr so wunderschön wie auf golden hour.
JEREMIAS // golden hour // VÖ: 28. Mai 2021
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agentdexter · 3 years
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Еze, France (by Jean-Pierre Lozi)
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agentdexter · 3 years
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Lesezeichen 01/21
Das erste Quartal dieses chaotischen Jahres ist überstanden und die Bücher, die ich in den vergangenen Wochen gelesen habe, will ich an dieser Stelle kurz vorstellen.
Trotz des anhaltenden Erfolgs, den die Serien-Adaption des Romans „Der Report der Magd“ hat, hätte ich vermutlich noch immer nicht nach dem Buch gegriffen, wenn es nicht auf der Leseliste des Buchclubs gelandet wäre. Letztlich bin ich froh diesen Dystopie-Klassiker von Margaret Atwood gelesen zu haben, denn er ist hervorragend erzählt, klug beobachtet (bzw. vorausgesagt) und verfügt über Botschaften, die aktuell relevanter denn je sind. Ich hatte das Glück, den Roman in der wunderschönen Auflage des Berlin Verlags zu erwerben. Diese war wohl limitiert bzw. wird gar nicht mehr in dieser Form als Hardcover gedruckt. Und weil ich Atwood unlängst mal in einem TV-Interview gesehen habe und sie dabei höchstsympathisch fand, habe ich mir aus der Interview-Reihe des Kampa-Verlags „Aus dem Wald herausfinden“ gegönnt, in dem auf etwa 150 Seiten ein umfangreiches Gespräch mit der Autorin abgedruckt ist. Vielleicht habe ich mich beim Lesen ein wenig in diese Grande Dame der Literatur verliebt. Ich kann es als Quasi-Sekundärliteratur nur wärmstens empfehlen.
„Faserland“ ist Christian Krachts allerallererster Roman gewesen; im Rahmen eines Popliteratur-Seminars während meines Studiums musste ich ihn damals neben einigen anderen aus dieser Gattung lesen. Weil jetzt „Eurotrash“ erschienen ist und darin die Geschichte der Hauptfigur aus „Faserland“ weitererzählt wird, habe ich noch mal Krachts Erstling und im Anschluss seinen neusten Roman gelesen. Und während der eine wirklich >klingt< wie ein perfekt komponierter Popsong, hat der andere eher den Sound eines Thomas-Mann-Romans. Das kann man nun gut oder schlecht finden, für mich zeigt es vor allem die Weiterentwicklung eines Autors, der (neben Benjamin von Stuckrad-Barre) in den 90ern zwar einen enormen Hype erlebt hat, dem der Feuilleton aber letztlich vielleicht doch nicht solche Qualitäten zugetraut hätte. Um es kurz zu machen: Es ist alles schön zusammenfabuliert in „Eurotrash“, dieses Roadmovie über den männlichen Ich-Erzähler, der seine kranke Mutter aus dem Altersheim holt, und alles daran setzt, das recht umfangreiche Familienvermögen auf einer letzten Reise auf den Kopf zu hauen. Das Spiel mit Realität und Fiktion ist unterhaltsam, weil man es als Leser:in ja tunlichst vermeiden sollte, Autor und Erzähler gleichzusetzen, in dieser Geschichte aber immer wieder darauf verwiesen wird, dass es vielleicht doch nicht so schlimm ist. Und trotzdem: In all seinem Charme, den dieser Roman ausstrahlt, ist da irgendwie auch eine große Leere, ein Nichts, weil es eben schlichtweg um nichts geht. Trotzdem: Schön, sich mal wiedergetroffen zu haben.
Megan Hunters „Die Harpyie“ habe ich mit großer Begeisterung gelesen. Allerdings ist dieser Roman auch ein sehr gutes Beispiel dafür, wie beliebig Verlage ihre Veröffentlichungen mit einem Label versehen, das manchmal vielleicht so richtig richtig richtig einfach nicht stimmt. Es wird so getan, als wäre es ein Thriller, in dem sich eine betrogene Ehefrau an ihrem Mann rächt. Und ja, das passiert im Grunde auch, aber die Rache-Momente sind nicht nur unspektakulär, noch sind sie nicht mal besonders essentiell für diesen Roman über eine Frau, die das Leid ihrer Jugend und Kindheit nie mit professioneller Hilfe verarbeiten konnte, sondern dem Irrglauben erlegen ist, sich nur in die Rolle der Ehefrau flüchten zu müssen, damit alles wieder gut wird. Dem ist eben nicht so, weshalb sie sich in eine wahnhafte Obsession flüchtet, die präzise seziert erzählt wird, und in einem Showdown mündet, der manchem vielleicht zu abgedreht ist, mir aber ausgesprochen gut gefallen hat. Wenn überhaupt, hätte ich mir noch 100 Seiten mehr gewünscht. Mehr aber habe ich an diesem besonderen Roman von Megan Hunter nicht auszusetzen.
Wieder ein Buch, das es auf die Liste des Buchclubs geschafft hat: „Annette, ein Heldinnen-Epos“ von Anne Weber. Ich habe immerhin schon die achte Auflage hier liegen, was ja nur zu beweisen scheint, dass eine Auszeichnung wie „Preisträger Deutscher Buchpreis 2020“ immer noch zieht. Jedenfalls geht es in dem Epos um die reale Frau Anne Beaumanoir, die in jungen Jahren der kommunistischen Résistance beigetreten ist, später die algerische Unabhängigkeitsbewegung aktiv unterstützt hat, dafür zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, flieht und deren weiteres Leben man im Grunde nicht durch eine schnöde Zusammenfassung würdevoll zu Papier bringen kann. Ob dieser Aufgabe ein Epos gerecht wird, kann ich nicht beurteilen. Die Jury des Deutschen Buchpreises war offenkundig der Meinung. Tatsächlich schadet es nicht, in Geschichte gut aufgepasst zu haben, um dieses Buch mit Genuss lesen zu können. (Spalier: Ich bin eine Niete in Geschichte und habe das Lesen dennoch genossen.) Außerdem bietet sich das Epos geradezu an, es sich (oder anderen) laut vorzulesen. Auf jeden Fall hat Weber eine Geschichte geschrieben, die einem viel abverlangt: so konzentriert wie auf diesen 200 Seiten hat man lange kein Leben einer Heldin präsentiert bekommen.
„Laufen“ von Isabel Bogdan habe ich geliebt bzw. liebe ich es noch immer. Die weibliche Hauptfigur hat die Liebe ihres Lebens, ihren Mann, verloren. Nach der anfänglichen Trauerphase läuft sie sich zurück ins Leben. Wer jetzt vermutet, dass es sich hierbei um ein verschwurbeltes als Sachbuch getarntes Werk über die Relevanz des Laufen-Gehens handelt, liegt komplett falsch. Denn es ist tatsächlich ein Roman und nur das. Beim Laufen bekommen wir die Gedanken der Erzählerin, die den Tod ihres Mannes zu verarbeiten versucht, präsentiert. Jedes aktuelle Thema wird angerissen: wie die Familie mit dem Verlust umgeht, ihre Schwiegereltern, wie ihre Freunde sich ihr gegenüber verhalten, wie erfolgreich die Therapie ist, in der sie sich befindet, wie gut ihr der berufliche Alltag tut, um wieder zurück zu einem halbwegs normalen Leben zu finden. Und bei all diesen Überlegungen zu einem im Grunde bittertraurigen Thema ist es die Erzählerin nie. Sie ist lakonisch, zynisch, ironisch, manchmal (ja klar) depressiv, aber eben vor allem optimistisch. Sie beobachtet ihr Umfeld, zieht Rückschlüsse und lässt alles das in ihr persönliches Sich-wieder-zurechtfinden mit einfließen. Insgesamt ist das unfassbar gut und kurzweilig erzählt. Wirklich.
„Ich hasse Männer“ ist eines dieser Bücher, nach denen ich gegriffen habe, weil in dem Land, aus dem es stammt, gewisse Männer sich übel angefasst gefühlt haben – allein vom Titel. Die Autorin Pauline Harmange ist Feministin und erzählt in diesem kurzen Essay warum sie (die Mehrheit der) Männer nicht leiden kann. Das tut sie so plausibel und überzeugend, dass man(n) sich wirklich, und ohne befürchten zu müssen jeden Moment seinen Penis zu verlieren, reflektiert fragen wird, ob und in welchen der aufgezählten Bereiche man selbst auch so ein Arschloch ist. Ich fühlte mich nach der Lektüre weder entmannt noch entmutigt, kann mir aber gut vorstellen, warum eine ohnehin vom Aussterben bedrohte Männerriege sich von einer solchen Aufarbeitung des weiblichen Alltags innerhalb einer Männerwelt angegriffen fühlt.
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agentdexter · 3 years
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Live-Signale
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YouTube: https://youtu.be/BWrq-7Hf5-8
Elbphilharmonie Mediathek: https://www.elbphilharmonie.de/de/mediathek/ivy-flindt/555
Eine bekannte Floskel aus dem Podcast „Fest und Flauschig“ von Jan Böhmermann und Olli Schulz ist „Das wissen die Jüngeren vielleicht schon gar nicht mehr“ und die passt hervorragend auf den Fakt, dass es auch in Deutschland seit Mitte der 70er Jahre eine Art „MTV Unplugged“-Reihe gibt. Nur heißt die bei uns eben „Rockpalast“ und ist eine Institution des WDR. Im August 2020 trat im Rahmen dieser legendären Konzertreihe die Hamburger Band Ivy Flindt auf.
In Zeiten wie diesen, in denen Konzerte nicht stattfinden dürfen, darf es ruhig als liebevolle Geste von Musikern und Bands verstanden werden, ausgerechnet ein Live-Album zu veröffentlichen. Aufgenommen wurde In Every Move - Live at Rockpalast inmitten des Landschaftsparks Duisburg zwischen den mächtigen Schornsteinen des historischen Hüttenwerks und natürlich Corona-konform, also ohne Publikum. 15 Songs präsentierte die Band, die meisten davon entstammten ihrem hochgelobten 2018er Debütalbum, vier Coverversionen haben es neu in dieses besondere Programm geschafft – darunter Father, Son von Peter Gabriel und Birds von Neil Young.
Zum heutigen Live-Album-Release erscheint zusätzliches ein gedrucktes 40-seitiges Fotomagazin mit einem Vorwort der Frontfrau, Cate Martin, und zahlreichen Fotografien von Micha Tuschy. Erworben werden kann es vorerst nur im Onlineshop der Band, bei zukünftigen Konzerten aber auch am Merch-Stand.
Keine Frage: Cate Martin und Gitarrist Micha Holland formen als Duo die Band Ivy Flindt. Schon bei meiner Besprechung des Debütalbums habe ich jedoch angemerkt, dass es mir zuweilen zu artifiziell klingt. Zu perfekt. Zu durchdacht. Zu ta-del-los. Es wirkt, als wollte jemand unbedingt eine Eins mit Sternchen bekommen, hat dafür alles nötige Wissen auswendig gelernt und dabei den Spaß und die gewisse Entspanntheit bei der Präsentation über Bord geworfen. Alles wirkt kalkuliert und einstudiert, nichts spontan. Und tatsächlich kann ich mich dieses Eindrucks auch nicht beim Anhören des Live-Albums erwehren.  Insgesamt ist es natürlich ein gnadenlos gut eingespieltes Konzert, für das die beiden mit ihrer Live-Band lange geprobt haben werden und vielleicht geht man genau deshalb eben auf die berühmte Nummer Sicher, weil man wusste, dass hier etwas Bleibendes entstehen soll.
Wer sich sein eigenes Bild davon machen möchte, kann das am Freitag, den 09. April tun. Dann nämlich tritt die Band in der Elbphilharminie (natürlich ohne Publikum) auf und streamt das Konzert auf alle angeschlossenen Endgeräte. Auch das: ein wichtiges Signal in diesen trostlosen Zeiten.
Ivy Flindt / In Every Move - Live at Rockpalast / VÖ: 31. März 2021
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agentdexter · 3 years
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agentdexter · 3 years
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Lies! Mich! Durch!
2020 habe ich es zum ersten Mal geschafft, fast 50 Bücher innerhalb eines Jahres zu lesen. Was für andere Menschen, die gern lesen, völlig normal (oder sogar noch vergleichsweise wenig) ist, ist für mich, bei allem, was ich drumherum noch mache oder auch nicht, oft eine enorme Herausforderung. Vielleicht, das muss ich ehrlicherweise zugeben, ist es aber auch so, dass ich es selbst zugelassen habe, dass meine Konzentrationsfähigkeit auf ein Minimum reduziert wird. Ob durch zu viel Bewegtbild-Konsum, einen Überfluss an sozialen Medien oder zu viel Arbeit – sich zu Hause hinzusetzen oder hinzulegen und bewusst in eine andere Welt abzutauchen, ist mir lange Zeit nicht leicht gefallen. Seit dem Frühjahr 2019 bin ich aber in einem Buchclub und lese zwei bis drei Bücher pro Monat, je nach Seitenumfang sogar mehr. Hinzukommen die Comics und Graphic Novels, die sich außerdem bei mir türmen und die auch gelesen werden wollen. Jedenfalls hatte ich mal vor, auf diesem Blog regelmäßig meine Meinung über die kürzlich durchgelesenen Bücher mit den paar Menschen dort draußen zu teilen, die das interessiert. Aber gerade in der zweiten Jahreshälfte und inmitten dieser verrückten Pandemie habe ich mich mehr und mehr in mich zurückgezogen, war hier und überhaupt im Netz weniger präsent. Ich weiß nicht, ob sich das jetzt ändert, habe es mir aber fest vorgenommen. Den Anfang macht eine Zusammenfassung meiner zuletzt gelesenen Bücher, damit ich quasi wieder auf Null bin und ich bei den kommenden Kurzkritiken nicht das Gefühl habe, diesen Stapel dort oben nie erwähnt zu haben. 
Damit das jetzt nicht zu lang wird, handhabe ich das wie folgt: Jedes Buch bekommt einen Satz, der unendlich lang werden kann, wenn es der Inhalt braucht, aber ich versuche es (versprochen!) so kurz wie möglich zu halten.
"Wir sehen alles” vom Briten William Sutcliffe ist ein kluger Jugendroman über eine mögliche gar nicht so ferne Zukunft, in der zahlreiche Städte durch Krieg zerstört wurden und zwei Jungs, deren Familienzustände und die Liebe zu zwei Frauen einerseits genutzt werden, um eine gesellschaftliche Entwicklung aufzuzeigen, die wir Leser natürlich längst in unserer Gegenwart erleben, und andererseits auf ein Finale hinzusteuern, das einen vermutlich mehr mitnimmt als alle Seiten “GRM” von Sibylle Berg.
Der Roman “Brüder” von Jackie Thomae stand 2019 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und müsste vermutlich allein deshalb von mir schon irgendwie besonders gefunden werden, trotzdem fand ich die Geschichte der zwei Brüder, die den gleichen Vater, aber unterschiedliche Mütter haben, anders aufwachsen, und natürlich individuelle Identitäten aufgrund ihrer Biografien entwickeln, streckenweise zu lang erzählt, zu gewollt und weitaus weniger berauschend, als es manches Jury-Mitglied gesehen haben dürfte.
Ganz anders ging es mir bei Fran Ross’ “Oreo”, das ich geliebt habe zu lesen und eines jener seltenen Bücher ist, das vermutlich mit jedem wiederholten Eintauchen im Laufe eines Lebens noch mal ganz neu erschlossen wird.
“Die sieben guten Jahre” von Etgar Keret ist ein herzzerreißend-schöner Kurzgeschichtenband, in dem der israelische Autor aus seinen ersten Vater-Sohn-Jahren berichtet, und uns mitnimmt in ein Land, in dem das Erwachsenwerden (und Erwachsensein) wegen des dort herrschenden Krieges alles andere als einfach ist. 
Alles was mir zu “Warum wir zusammen sind” von Martin R. Dean, einem Roman über ein Paar, dessen Beziehung zu scheitern scheint, und dessen Freundeskreis, der wiederum fast ausschließlich aus Paaren besteht und somit zahlreiche andere Schablonen dafür liefert, warum Beziehungen funktionieren können oder eben nicht, noch einfällt, ist der Gedanke, der mir beim Zuklappen nach dem Fertiglesen durch den Kopf ging: “Oooh, DAS war gut”. 
Mit deutlicher Verspätung habe ich Miranda Julys “Der erste fiese Typ” gelesen und trotzdem so gemocht wie all jene, die es schon zur Veröffentlichung vor Jahren gebührend gefeiert haben, weil es einfach clever ist und lustig und voller wundervoller Dialoge.
Zoë Beck ist Übersetzerin (von u.a. Sally Rooneys Romanen) und Autorin von z.B. dem Zukunftsthriller “Paradise City”, der aus Frankfurt eine Megacity und zum Ort finsterer Überwachungsideen macht, wo ein Journalist Opfer eines mysteriösen Unfalls wird, was seine Partnerin und Geliebte dazu bringt, der Sache auf den Grund gehen zu wollen und mich trotzdem nicht so abgeholt hat, wie ich es erhofft hatte.
Von der Presse hochgelobt wurde Juli Zehs “Corpus Delicti”, dessen Geschichte ebenfalls in einer nahen Zukunft spielt, in der ein perfides Gesundheitssystem konstruiert wurde, und dessen kranke Auswüchse am tragischen Schicksal eines Geschwister-Paares absolut hochspannend erzählt wird. 
“Die Jahre” von Annie Ernaux ist ein mitreißender Erzählrausch einer Frau, die auf ihr Leben zurückblickt, nicht immer chronologisch, aber sprachgewaltig und so eindringlich, dass ich ihr noch viel viel länger hätte zuhören können.
Martin Suter hat mit “Allmen und die verschwundene Maria” einen weiteren Erzählband seiner kurzweiligen Holmes-und-Watson-Variante vorgelegt, den ich genau so gern und schnell gelesen habe, wie die Vorgänger-Bände - obwohl ich mir natürlich bewusst darüber bin, dass das keine große literarische Kunst ist.
“Nächster Halt Verlangen” von Arno Camenisch ist eine amüsante und leider viel zu dünne Kolumnensammlung, deren Basis äußerst kuriose Alltagsbeobachtungen und -erlebnisse sind.
“Take That” von Anja Rützel ist mehr als ein One-Hit-Wonder, vielleicht sogar ein Best-of, auf jeden Fall aber unfassbar unterhaltsam – wenn man, wie ich, Take That schon immer cooler fand als die Backstreet Boys oder Caught in the Act.
“Feminismus” von Barbara Streidl gehört wie auch “Alfred Hitchcock” von Alexander Kluy zur 100-Seiten-Reihe des Reclam-Verlags, in der kluge Menschen auf exakt einhundert Seiten über ein ihnen wichtiges Thema pointiert essayhaft schreiben und uns, die zumeist unwissenden Leser, mitnehmen auf einen Kurztrip zu den wichtigsten Eckdaten einer gesellschaftlich-politischen Strömung, einer Karriere, eines Phänomens oder wichtigen Kulturguts. 
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agentdexter · 3 years
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Ich habe schon wieder - nach nur wenigen Monaten, nachdem ich dieses neue Blog-Design ausgewählt und ein paar Einstellungen individualisiert habe - große Lust, alles zu verändern. Dass der Mensch nicht mal bei eigentlich unwichtigen Dingen zur Ruhe kommen kann, ist doch verrückt.
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agentdexter · 3 years
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Keine böse Nachricht zu bekommen ist nicht das, was du verdient hast. Du brauchst auch eine "Danke"-Nachricht. Manchmal, in dunklen Momenten, fällt mir ein, dass ich dich hier um Rat fragen könnte. Manchmal dauert es mit der Antwort, aber ich habe immer eine erhalten (soweit ich mich erinnere). Und auch, wenn ich sie nicht unmittelbar bekam, waren deine Worte und Gedanken immer spannend. Dafür will ich Danke sagen. Danke. Wirklich.
Das ist sehr lieb. Und weil die (anonyme) Kommunikation im Netz ja oft zu wünschen übrig lässt, finde ich es umso schöner, so eine Nachricht im Postfach zu haben. 
Wer mir etwas mitteilen oder Fragen stellen möchte, auf die man selbst (noch) keine Antwort gefunden hat, aber vielleicht mal jemanden dazu hören möchte, der so gar nicht Teil des Lebens ist, also den berühmten “neutralen” Blick hat, kann das gern hier tun.
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agentdexter · 3 years
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Wie oft muss eine bestimmte Hoffnung (z.B. eine politische)  sich nicht erfüllen, damit Sie die betroffene Hoffnung aufgeben, und gelingt Ihnen dies, ohne sich sofort eine andere Hoffnung zu machen?*
Eine Hoffnung aufzugeben, etwa aus mehrmaliger Enttäuschung, kann ja verschiedene Motivationen haben. Etwa aus der Erkenntnis heraus, dass es andere Hoffnungen und Ziele gibt, die mehr Motivation verdient haben. Oder weil das, worauf man gehofft hat, sich als (gemessen an welchen Maßstäben auch immer) nicht mehr “richtig” herausstellt. Oder man trennt sich einfach von einer Hoffnung, bevor daraus eine böse Obsession wird. Insofern klingt die Frage wie eine Wertung und diese eben so, als wäre es nicht gut, sich von einer lange verfolgten Hoffnung zu lösen – eine Denkweise, die ich nicht unterstütze. 
Jedenfalls kann ich die Frage nicht beantworten, weil ich einerseits viele Hoffnungen so lang verfolgt habe, bis sie sich irgendwann erfüllt haben, und von anderen irgendwann abgelassen habe, um zur Ruhe zu kommen und mich irgendwann anderen Hoffnungen zuzuwenden. Aber ich habe nie mitgezählt, wie “oft” eine Hoffnung nicht erfüllt wurde, von der ich mich dann abgewandt habe.
*Quelle: Frage 2 aus dem „Fragebogen 4“ von Max Frisch
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