Tumgik
friedrichwill · 1 year
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Entzündet. (überarbeitet)
Auf dem mit Polster verkleideten Zweisitzer aus Korb, Blick auf das Flimmern gegenüber, Beine zum Schneider und Rücken gesteift, hält sie, den Ärmel gerafft, vor sich ihren linken Unterarm und bearbeitet die Blöße mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand, auf und ab. Nach einem Takt, der ihren Puls mal vier-, mal siebenmal, übertrifft. Sie kratzt.
Ich verfolge. Ich denke daran um ihr angespanntes Handgelenk und die aufgerissen, heißgekratzte Haut zu greifen, beides zu mir zu ziehen und in ihren blinden, nach innen gekehrten Augen ihr Verlangen zu genießen; ihr Verlangen zu genießen ihre Reize und sich selbst auszulöschen.
Ich glaube nicht, dass ich so ihre Aufmerksamkeit gewinne. Ihr Wollen soll einfach auf meinem Gesicht, auf jedem Flecken meiner Haut, brennen. Verschlingen soll mich ihre nun nicht teilbare Wirklichkeit.
Kurz vor meinem achten Geburtstag nahm meine Familie eine Einladung von Freunden meiner Eltern im Westen an. Sie hatten ein Haus in einem grünen Teil am Rande ihrer Stadt. Sie hatten außerdem zwei Töchter. Eine, mehrere Jahre älter als ich, die andere mir nur ein Jahr voraus. Ich hingegen hatte zwei jüngere Brüder. Als Familie war uns in dem großzügigen Arbeitszimmer unterm Dach Platz gemacht worden, zu erreichen durch das Wohnzimmer mit angrenzender Terasse, eine hölzerne Wendeltreppe hinauf, entlang eines Stahlgeländers. Der Fußboden warmes Holz. Als Schmuck ein schwarzes, borstiges Fell mit an den Rändern unklarem Verlauf, auf der Unterseite gegerbt.
Am ersten Abend stieg ich die drehenden Stufen hinunter in das Wohnzimmer zu den fernsehenden Erwachsenen. Ich setzte mich zu ihnen. Auch ich schaute gern Nachrichten. Zu sehen bekamen wir einen Flugzeugträger mit Flugzeugen und Wüste mit Panzern. Einschläge, von weiter weg gefilmt. Krieg. Das enthob mich. Ein Bild, das zur Zeit passte, als meine Großeltern jung waren und deren Eltern im Leben standen. Hatten sie damals nicht selbst noch ihre Großeltern? Sechseinhalb Leben, von mir aus gerechnet, war mir Krieg entfernt.
Teil unseres Urlaubsauftrages war es, mit unseren Gastgebern an einen See zu fahren. Baden. Trotzdem, dass ich nicht schwimmen konnte, saß ich, mit der ein Jahr älteren Tochter der Freunde meiner Eltern und einem mitgekommenen Freund von ihr, in einem aufgeblasenen Paddelboot. Wir fuhren zu einem verankerten Holzplateau auf dem Badee. Der Freund, der ein Jahr älteren Tochter der Freunde meiner Eltern, sprang von dem Holzdeck weit und kopfüber in die weichen Wellen. Er kraulte vier Züge, und zurück.
Bei ihr fiel mir was auf. Sie hatte verdickte Haut, wie Schwielen, an den Innenseiten der Unterarme. Das meiste gerötet mit schneenen Punkten, wo die Haut gefetzt war gelblicher, offene, blutige Striche, Schorf. Auch an Hals und Fingerknöcheln trug sie das. Schmuck.
Als wir zusammen auf Decken im sandigen Gras kauerten schaute ich immer wieder zu ihr. Sie neckte sich mit ihrem Freund. Ihre entzündete und verletzte Haut nahm ich wahr. Wild fand ich sie. Ich fand sie stolz.
Schmerz, Entzündung, Unbeherschtheit trug sie. Und ohne Maß. Konnte sie maßlos vergnügt sein. Konnte sie maßlos bös werden. Konnte sie ohne Maß in Phantasien untertauchen.
Seit damals fand ich, wenn ich es an Mädchen, auch Jungs, zu sehen bekam, dass sie all ihr Fleischiges abgeklärt durch ihre Tagfolge tragen, mit Verachtung für die Welt. Seit damals erwarte ich ihr Inneres widerborstig. Und, dass es, jeden Moment, ohne dass ich es berechnen könnte, durch sie hindurch heraus schießt. Klar, apart bewegen sie sich - ich weiß nicht, vielleicht wie ein Jaguar der den Dschungel durchmisst - durch die städtischen Vorhallen. Ihre offene Haut ist dann zart bedeckt durch Kleidung. Ein vornehmes Zugeständnis, vermute ich. Doch komme ich näher, oder werde ein Stück von ihnen mitgenommen, schreit alles an ihnen. Daseinsbekundung.
In ihr Pulverfass greife an diesem Abend vor dem Fernseher nicht. Was ich tue ist, mir verdeckt den Nagel meines Daumens unter die Haut zu drücken. Eine substitutive Befriedigung. Befriedigung für die Sehnsucht hin zu jenem Moment, an dem ich den Anlauf zum kurzen Sprung über die Kluft nehmen werde. Und mit ihr dann um ihren Unterarm kämpfe.
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friedrichwill · 1 year
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Ausschreiten
Erster Akt
Es war der Tag, an dem ich zu gehen begann. Fanatisch. Jeden Tag. Immer weiter. Immer weiter weg. Jedes mal soweit, dass ich nicht mehr weiter konnte und erschöpft den Rückweg antrat. Den Schlüssel in der Haustür drehte ich durchnässt, klebrig, mit zitternden Händen und weichen Knien. Schien die Sonne, wirkte ein leichter Sonnenstich auf mich ein.
Während dieses Art Gehen zum Inhalt meiner Tage wurde, erfuhr ich im Radio von der Einrichtung eines Lehrstuhls an der Universität Kassel, der das Fach ‚Promenadologie' betreiben sollte. Eine Wissenschaft des Spazierengehens. Der Lehrstuhl ist oder war wohl der Fakultät rund um die Stadtplaner angeschlossen. Die Grundannahme dort bestand darin, dass man die Mitwelt erst spazierengehend sachgerecht einschätzt. Lebensraumgestalter (Architekten, Stadtplaner und ähnliches) sollten etwas in dieser Richtung eingeübt bekommen. Genauer weiß ich es nicht.
*
Etliche Jahre zuvor, ich mag Vierzehn gewesen sein, hatte ich für das Gehen nichts übrig. Den Sommer über wurde ich mit einem Bus durch Deutschland und das nahe Ausland chauffiert. Ich reiste routiniert als Teil eines Knabenchores, der sich auf mehrwöchiger Singefahrt befand. Und wie immer auf solchen Fahrten machten wir zwei bis drei Tage Station in einem größeren Dorf oder einer namenlosen Kleinstadt, sonstwo. Vermutlich nach einem unserer Konzerte war ein Stehempfang für Knaben, Betreuer und Gasteltern organisiert.
Heute habe ich den genauen Umstand nicht mehr im Gedächtnis. Ich meine aber, ein Erzieher erlaubte mir, und vielleicht auch anderen, mal an einem der reichlich bereitgestellten Sektgläsern zu nippen. Das war vielleicht nicht das erste mal, dass ich Alkohol versuchte. Aber an diesem Abend, warum weiß ich nicht mehr, trank ich mehr. Anzunehmen ist, dass ich mir nach dem ersten genehmigten Schluck, unbeaufsichtigt, den zweiten und dritten organisierte.
Euphorie. Die allgegenwärtigen Engen, die Beklemmungen, die klebende Grundangst an sich, alles verflog, löste sich. Statt dessen Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit, Mut, ja, Übermut. Kurz, ich fühlte mich frei.
Ich schwebte über das gewachste Laminat des Raumes. Interessiert schaute ich in die Gesichter der sonst so unheimlichen Erwachsenen. Ich durchquerte immer lustvoller den Saal. Hörte kurz hier und da Gesprächen zu. Gelegentlich kümmerte ich mich um Nachschub. Dann stellte ich mich zu einer Gruppe Gleichaltriger und wir alberten herum! Wo ich bis dahin kaum etwas komisch an ihren Frotzeleien finden konnte. Mir die Gedanken im Kopf gefroren. Ich ein sich aufbauendes Gefühl der Niederlage erlebte, weil ich außer ‚Ja' und ‚Nee' und einem verlegenem Schweigen nichts auf die spielerischen Machtproben zu antworten wusste. Dort, an diesem Abend floss es.
Im Bett, im Haus bei den mir zugeteilten Gasteltern, erlebte ich noch etwas. Die Leichtig- und Beschwingtheit wich einem Drehwurm. Der drehte sich. Erst recht bei geschlossenen Augen. Aber das war nicht das Problem. Sondern, dass sich das Drehen im Kopf gewissermaßen mit einem Drehen im Magen verband. Mir war derart übel, dass ich dachte, jeden Moment kotzen zu müssen. Meine Ängste schlichen zurück, bauten sich massiv auf, begannen mich von den vier Bettpfosten aus zu belauern. Würde ich unvermittelt das nach Sauberkeit duftende Bett mit meinem Mageninhalt entweihen? Sollte ich versuchen durch das stille und dunkle Haus zu tapsen um vor der Toilette Aufstellung zu nehmen? Wie lange würde es Sinn machen dort zu warten? Oder würde ich mich, beim Gedanken an die nahe Toilette, vorschnell in den Flur übergeben? Wie bekam ich es hin, dass das Drehen aufhörte? Müsste ich nicht schon längst schlafen, damit ich für den morgigen Tag ausgeschlafen wäre?
Ich denke, hätte ich mich in dieser Nacht in das saubere Bett übergeben, wüsste ich das heute. Also hab ich das nicht getan. Allerdings erinnere ich mich, wie es mich in Unruhe versetzte, als ich zu zwei Gelegenheiten, aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen der Erzieher, erfuhr, dass einer meiner Sängerkameraden alkoholbedingt bei Gasteltern das Bettzeug verschmutzt hatte.
In dieser Nacht kämpfte ich zum ersten mal den terrorisierend, qualvollen Kampf, den ich in den folgenden Jahren immer, und immer öfter, kämpfte. Solange bis ich, eines anderen Nächtens, die tiefe Befriedigung entdeckte mir im Vollrausch vorsätzlich und im rechten Augenblick erst den Magen zu entleeren und dann von der Magensäure die Speiseröhre verbrennen zu lassen. Das Prozedere trieb mir Tränen in die Augen. Ich spürte Glück. Aber bis dahin dauerte es noch ein paar Jahre. Bis dahin galt es, sich konzentriert davon abzulenken, dass es dreht. Sich angestrengt davon abzulenken, dass einem übel ist. Zu beten, man möge bald einschlafen. Damit nichts passiert. Ja nicht.
*
Ausschreiten. Zweiter Akt
Keine Ahnung mehr, wie oft ich in der Folge trinken konnte oder wo ich es her hatte. Als ich etwa Fünfzehn, Sechzehn war, fand eine spannende Klassenfete statt. Die Eltern eines unserer Mädchen müssen liberal gewesen sein; jedenfalls räumten sie ihr Haus mit Garten für ein Teenagerevent. Der Anlass war vermutlich der Geburtstag eines oder mehrere der Mädchen. Ich kann mir vorstellen, dass sie die gesamte Klasse eingeladen hatten. Anders fällt es mir schwer zu erklären, dass ich dabei war. Denn das Zentrum der Veranstaltung bildete die Mädchenclique der Klasse, mit der ich außerhalb der Schule noch nie aufeinandergetroffen war. Scharf drauf war ich sehr wohl.
Ob es Bier und Wein gab, weiß ich nicht mehr. Das Getränke des Abends hieß Wodka. Puschkin. Gemischt mit Orangensaft. Außerdem hatte irgendjemand, wie er sagte, reinen Alkohol dabei. Begleitet von lustvollem Prickeln wanderte die Flasche von einem zum nächsten, in einem Raum in dem es kaum Licht zu geben schien, jedes mal mit dem magischen Satz versehen: Wenn Du davon zu viel trinkst, stirbst Du.
So ging der Abend in die Stunden. Und warum sollten fünfzehn alkoholisierte Jugendliche, in einer heißen Sommernacht, keinen Spaziergang durch die Nachbarschaft unternehmen? Der Zug der pubertierenden Demonstranten verteilte sich schnell über kleinere Grüppchen auf die Länge eines Hausgevierts. Und kurz nachdem die Gruppe mit der ich mitlief an einer QuartierKneipe mit einigen beleuchteten Tischen im Vorgarten vorbeigestolpert war, entdeckte ich einen Mercedes. Älteres Modell. Parkend, am Straßenrand.
Gerade noch fähig ein Fuß vor den anderen zu setzen, und voll vom Gefühl diesmal dazuzugehören und wer weiß was in dieser Nacht noch passieren würde, ergriff ich den geparkten Stern unter der Straßenlaterne und meine Gelegenheit mich zu produzieren. Aber weder der geschickte Dreh noch alle Gewalt konnten etwas ausrichten. Als eine männliche Stimme von irgendwoher drohend brüllte, begann ich zu laufen. Immer noch angefüllt mit Euphorie über den Streich. Erwischt zu werden war lustvoll. Ich registrierte zwar, dass mich während meines Sprints ein Auto überholte, dachte mir aber nichts dabei. Ich dachte mir erst was dabei, als sich mir an der nächsten Ecke ein quer geparktes Auto mit offener Tür präsentierte, dessen Fahrer, bekleidet mit einem ärmellosen Shirt, ein Union Jack, sich einen meiner Klassenkameraden vorknöpfte. Zwar war dieser der mit Abstand am sportlichsten Gebaute der Klasse. Der Fahrer war dann aber größer und breiter. Er hatte den Unschuldigen und auch Ahnungslosen am Nicki gepackt und unterzog ihn einem strengen Verhör. Die Umstehenden, hilfreicherweise Mädchen, wirkten beschwichtigten auf den Fahrer ein und versicherten nichts von dem Vorfall bemerkt zu haben. Ich stellte mich zu den Umstehenden. In dem Moment das einzige was ich machen konnte. Denn erneut weglaufen würde die Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Und mich schuldig wirken lassen. Schuldig wirken lassen hätte mich genau genommen auch, zu sagen, Hey! Herr Glatzkopf, ich wars, der sich eben an ihrer Zuhälterkarre vergangen hat. Statt dessen stand ich nur steif da.
Der Mercedeshulk ließ irgendwann von dem armen Jungen ab und wir, vor allem ich, waren aus der Sache raus. Eine halbe Stunde später war alles vergessen. Die letzten Bilderfetzen, die ich von diesem Abend im Gedächtnis behalten habe, bestehen darin, dass ich mit einem Eimer und Lappen die alte, schmale Holztreppe des Hauses von Erbrochenen befreite; eines der Mädchen... Und darin, dass etwas Aufregung entstand, da ein anderes nicht mehr ansprechbar war. Wir überlegten einen Krankenwagen zu rufen. Das hätte natürlich Ärger für alle bedeutet. So legten wir uns in dem dunklen Raum auf den Teppich und hüllten uns in die mitgebrachten Schlafsäcke. Am nächsten Vormittag erhoben sich, kreidebleich, alle wieder und halfen entweder aufzuräumen oder traten ihren Heimweg an.
*
In der folgenden Zeit saß ich im Internat, von mal zu mal öfter, mit anderen Internatsschülern in abendlicher Runde. Und immer öfter wurde ich auf einen whiskey eingeladen. Besonderen Geschmack fand ich an scotch. Glenfiddich wurde schließlich Rauschmittel meiner Wahl. Ich hatte gar nicht gefragt, woher die anderen die Getränke hatten. Solange bis ich aus einem Gespräch schloss, dass er in Supermärkten ‚besorgt' wurde. Eigentlich klar. Keiner war Achtzehn und keiner hatte das Geld für sowas. Ich wurde weiterhin freundlich eingeladen.
Gestohlen hatte ich noch nie. In der sechsten Klasse hatte ich mal auf meinem Rückweg von der Schule mitbekommen, dass einige Mitschüler das Betreten des nahen Geschäfts zur Mutprobe machten. Tagelang kämpfte ich mit mir, ob ich nicht die Gelegenheit nutzen sollte, bei diesen Mitschülern zu punkten. Schließlich kam ich zu dem Ergebnis, dass ich mich im Leben nicht trauen würde, zwischen Regalen und Kassierern, zu stehlen. Zu viel Schiss. Das schien sich zu ändern, als ich zwar immer noch eingeladen wurde, die Jungs mir aber zu verstehen gaben, dass es doch ein feiner Zug von mir wäre, mich bei den Besorgungstouren einzubringen.
Es gab zwei fußläufig zu erreichende Geschäfte. Wir brachen zu dritt ins Kaufland auf, weil es das größere war. Mit der Einkaufswagenrolltreppe fuhren wir in das obere Geschoss, wo die harten Sachen warteten. Beim ersten mal hatte ich die Aufgabe die Flasche aus dem Regal zu nehmen und in den Rucksack meines Mitschülers gleiten zu lassen, der diesen nicht absetze. Unser dritte Mann stand am Zugang der Regalreihe und tat unauffällig, musste dabei aber aufpassen, ob sich jemand näherte oder misstrauisch zu uns sah. Ob wir zur Tarnung noch etwas kauften, weiß ich nicht mehr. Heute würde ich es so machen. Beim zweiten mal stand ich am Ende des Regals schmiere. Beim dritten mal trug ich den Rucksack. Erfolg machte mutig. So dass ich danach auch schon mal etwas alleine besorgen konnte und wollte. Und, war zunächst die Entschuldigung für die Klauerei gewesen keine Achtzehn zu sein und den Schnaps nicht an der Kasse zu bekommen, so sah ich es bald auch nicht mehr ein, mein Taschengeld für so etwas gut in der Hand liegendes wie Zahnpasta auszugeben. Und ich hatte, schneller als ich es mir vorgestellt hatte, so viel Routine, dass ich auch ohne Bedenken in dem kleineren Laden einkaufen ging. Der lag näher.
Das ging so lange, bis einer von uns dreien vom Chor aus beauftragt wurde, Pappalletten von Joghurt zu besorgen. Der eine bestimmte uns zwei anderen zum tragen. Ich meine, dass eine Singefahrt am selben Tag bevor stand und man vergessen hatte Joghurt als Teil der Busverpflegung einzuholen. Wir machten uns also zu dritt auf, ins Kaufland. Es war eine günstige Gelegenheit uns noch schnell für die kommenden Tage zu ergänzen. Vor Konzerten war es zum Ritual geworden, dass wir der Reihe nach, schon gestriegelt und gebügelt, aufs Klo verschwanden. Wir nannten das die Stimme ölen.
Im Kaufland spulten wir unser Programm ab und bezahlten an der Kasse den Joghurt. Beim Hinausgehen versperrte uns ein bulliger Mann in Schwarz den Weg und von hinten eilte ein drahtiger Mann in Schwarz heran, fasste dem Rucksackträger an die Schulter und forderte uns auf ihm zu folgen. Wir gaben schnell alles zu und her, bekamen ein Jahr Hausverbot und sollten eine Geldstrafe zahlen. Außerdem würde sich die Polizei bei uns melden.
Ich weiß nicht mehr, was ich anstellen musste, um das vor meinen Eltern zu verheimlichen. Die Strafe konnte ich bezahlen, weil ich von zu Hause zufälligerweise Geld für neue Schuhe bekommen hatte. Zur Polizei wurden wir nach Wochen, getrennt voneinander, vorgeladen. Wir machten unsere Aussage. Das Verfahren wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Der eine weniger, die anderen beiden mehr, kehrten wir traumatisiert, oder wenigstens zerknirscht, mit dem Joghurt zum Internat zurück, vor dem bereits der Reisebus von TaeterTours die Gepäckklappen aufgerissen hatte, die Jungs ihr Reisegepäck verstauten, und wir kleinlaut den Joghurt dazu stellten.
*
Den einzigen Champagner, den ich in meinem Leben trank, teilte ich mir aus der Flasche, mit einem Internatsschüler, mit dem ich sonst nicht soviel zu tun hatte. Während ich aufs Gymnasium in der Innenstadt ging, besuchte er die Mittelschule im Viertel. Wir teilten auf einer Bank auf dem Internatsgelände, die an einem kleinen Biotop aufgestellt worden war, das, auf Geheiß des Internatsleiters, durch die Internatsschüler angelegt und nicht gepflegt wurde. Dass eines Tages eine Schicht aus Motoröl darauf glänzte, ist eine andere Geschichte. Und diesen einzigen Champagner meines Lebens trank ich, als ich noch bei Kaufland einkaufen durfte.
Wir zwei Champagnerschlürfer redeten, bereits bei Dunkelheit, immer schneller vor uns hin. Bald waren wir einig, dass hier nichts passierte. Und es würde auch nie etwas passieren. Und so brachten wir nach und nach die Champagnerperlen zum platzen. Sie platzten farbenfroh. Es musste etwas passieren. Jetzt. Wir waren einig.
Die Flasche war leer. Wir hatten eine Idee. Wir waren uns einig. Wir brachen auf. Zur Mittelschule. Wir machten an einer unbeleuchteten Stelle über den Zaun des Geländes und steuerten das Fenster im Hochpaterre an, das mein Begleiter als Fenster des Rückzugsraums des Putzpersonals, des Küchenpersonals und des Hausmeisters bestimmte. Wir fanden einen größeren Stein und warfen ihn auf die Scheibe. Es gab ein dumpfes Geräusch, der Stein prallte ab, wir duckten uns und lauschten. Als alles still blieb, warfen wir erneut, diesmal mit mehr Kraft. Es klirrte. Erschrocken schauten wir uns an. Dann huschte ich, geduckt, meinem Begleiter hinterher, in eine umzäunte Ecke des Schulgeländes. Dort warfen wir uns auf den Boden. Feuchte, lockere Erde. Der Schulgarten. Als sich erneut nichts tat, schlichen wir zurück unter das beschädigte Fenster. Mittels Räuberleiter und einer helfenden Hand erklommen wir den Mauervorsprung unter dem Fenster, griffen durch die Scherben, öffneten die Fensterflügel und stiegen ein. Drin. Der Plan war, dass dieser Raum, in Gegensatz zu anderen, oft unverschlossen sein würde, und so die Möglichkeit bot, ins Gebäude zu gelangen. Der Plan war, die Süßigkeitenautomaten in den Gängen auszunehmen.
Wir drückten die Klinke. Verschlossen. Kurz überlegten wir, ob wir die Tür öffnen würden können. Wir entschieden uns dagegen. Statt dessen setzten wir uns auf zwei Stühle an einem bereitgestellten kleinen runden Tisch und benutzten selbstzufrieden den Aschenbecher der Putzkolonne.
Gestapelte Paletten mit Cola und Fanta usw. fielen dabei in unseren Blick. Das war doch noch unsere Chance aus diesem Abend etwas mitzunehmen. Jeder packte sich eine Palette auf die Unterarme, wir sprangen vom Mauervorsprung und verließen das unbeleuchtete Gelände über den Zaun. Nach drei, vier Metern zwischen den Häusern wurde uns etwas klar. Die Gehwege waren beleuchtet und wir trugen Diebesgut vor der geschwellten Brust.
*
Ausschreiten. Dritter Akt
In den ersten zwei Wochen meines Grundwehrdienstes gab es wohl kein, oder kaum, Alkohol. Aber das pegelte sich ein. Bald war es klar, dass der Dachdeckergeselle aus der Nachbarstube, der ein Auto besaß, nach Dienstschluss in den nächsten Markt fuhr und eine Palette Bier in Dosen besorgte. Andere Stuben hatten sich in ähnliche Arrangements gefunden. So war auf den Stuben jeden Abend Frustsaufen oder ausgelassene Stimmung auf dem Gang.
Ein Abend gehörte zu den ausgelasseneren. Als ich genug hatte, knallte ich mich in meine Koje. In der Nacht wurde ich kurz wach. Ich befand mich auf meiner Matratze, die ruhte auf dem Boden des Zugflurs. Um mich herum stolze und grölende Soldaten. Zwei Wochen später konnte ich mir meine hilflosen Versuche, aufzustehen und die Matratze zurück auf meine Stube zu zerren, auf Videoband ansehen.
Das nächste mal wurde ich wach, als ein Unteroffizier sein Gesicht über mich beugte. Inhaltlich ging es darum, dass ich mich beeilen müsste, dass ich das Antreten verpasst hätte und dass ich mich, wenn ich rasiert sei, in der Zugstube zu melden habe. Als der Unteroffizier verschwunden war, sah ich, dass alle möglichen Sachen kreuz und quer in der Stube verteilt lagen. Meinen Wecker entdeckte ich auf dem Fußboden. Etwas weiter weg seine Batterien.
Als ich mich in der Zugstube meldete erwartete ich den Anschiss meines Lebens und einen Diszi. Der Unteroffizier machte mir die knappe Mitteilung, wo sich in der Kaserne mein Zug aufhielt und erteilte mir Befehl dazuzustoßen. Nun erwartete ich den ganzen Tag den aufgeschobenen Anschiss und Diszi. Als dies den ganzen Tag nicht passierte erwartete ich die beiden die restliche Woche über. Aber nix. Keiner erwähnte den Vorfall auch nur. Von da an nahm ich an, dass die Unteroffiziere die Aktion für eine interne Disziplinierungsmaßnahme hielten, von denen ich gehört hatte, dass sie in Armeen, wie der NVA, von den Mannschaften selbstständig und untereinander erwartet wurden.
*
Am Tag, als ich mit meinen beiden künftigen Mitbewohnern meine oder unsere quasi erste eigene Wohnung bezog, begleitete und half uns der Vater eines der künftigen Mitbewohner. Das war ganz hilfreich, da wir in einem zum Schluss Rand voll bepackten Transporter im wesentlichen unsere gesamte Ersteinrichtung an den alten Adressen verluden und zweihundert Kilometer entfernt an der neuen vorfuhren. Als es schon dämmerte mussten auch noch einige Möbel, wie etwa Betten, aufgebaut werden. Je später es nun wurde, desto nervöser wurde ich. Bereits eine Stunde lang war ich zur Überzeugung gelangt, der hilfreiche Vater müsste jetzt, jeden Augenblick, gehen. Ich verstand nicht, was er noch bei uns tat. Ich hatte nur noch zwei Gedanken. Bier. Ich möchte nicht, dass der Vater sieht, dass ich anfange – für mich - zu trinken.
Dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich tat so selbstverständlich wie möglich, und nach einem geschafften Umzug ist es ja auch kaum ehrenrührig. Ich öffnete mir das erste Bier. Der Vater musste noch weit zurückfahren. Meine Mitbewohner tranken nur gelegentlich. So hoffte ich, dass es nicht auffiel, nicht auf die Idee zu kommen ihnen etwas anzubieten. Ich war nur für diesen ersten Abend versorgt. Davon etwas aufzugeben erschien mir grausam.
*
Ich lebte mich ein. Der Einkaufsladen war gegenüber. In die Fakultät fuhr ich mit dem Fahrrad. Es fanden sich eine handvoll Kommilitonen die lustig drauf waren und die mich dankenswerter weiße zu ihren abendlichen Zusammenkünften einluden. Für die Tage, bzw. Abende, an denen ich probierte, wie weit ich nüchtern kam, entdeckte ich eine versteckte, aber nahe, Tankstelle, die mir auch nach Mitternacht Liebfrauenmilch für einen Fünfer verkaufte.
Nach zwei Semestern ereignete sich in meinem eingebildeten Liebesleben ein Unglück. Darauf verzichtete ich auf den weiteren Besuch von Vorlesungen und dergleichen. Mein Tag begann nunmehr gegen Fünf, Nachmittags. Auf dem Herd erwärmte ich Wasser, dann setzte ich mich zu Füßen des Sofas auf den Wohnzimmerteppich und schaltete den Fernseher ein. Waren die Tortellini gekocht, verfeinerte ich sie mit Ketchup, setzte mich mit dem Teller zurück vor den Fernseher, suchte in den umstehenden Apfelsaftpackungen eine volle und schenkte mir ein. Nach einer schlechten Erfahrung kontrollierte ich noch, ob Schimmelinseln im Glas schwammen. So stärkte ich mich für die Nacht. Meinen Mitbewohnern ging ich aus dem Weg. Ging das nicht, versuchte ich sie auszublenden.
Für die Nacht war ich meist verabredet. Wir zogen durch die Kneipen oder erlebten WG Feiern. Zu Anfang bestand ein Ärgernis noch darin, dass alle Kneipen gegen Eins schließen wollten. Dann bettelten wir, uns noch ein paar Bier auf die Hand zu verkaufen. Später entdeckten wir eine Lokalität die Abends um zehn ihre Rolläden herunterließ und ihre Gäste bis acht Uhr Morgens zuverlässig versorgte. Stolperten wir dort um acht Uhr ins gleißende Sonnenlicht, konnten wir an einem weiteren urig, gastfreundlichen Ort unterkommen, der um acht Uhr Morgens öffnete. Die Hälfte der dort Anwesenden freute sich frisch auf ein Frühstück, die andere Hälfte sah nicht mehr so frisch aus und bestellte Bier. Mit ihr hatten wir soeben die Nacht verbracht.
Meine Mitbewohner bereiteten unterdessen ihr Vordiplom und Auslandsjahr vor. Erst verärgert, dann besorgt, nahmen sie zur Kenntnis, dass ich nicht auf Wohnungssuche ging. Einen Monat vor Auflösung unseres Projekts drückte mir die eine ein paar Telefonnummern in die Hand und ich startete widerwillig die Suche. Bei WG-Castings fiel ich durch. Große Chancen hingegen hatte ich bei einer Studentin, die den Keller eines Einfamilienhaus vermietet bekommen hatte. Niedrige, kalte Räume, mit Lichtschächten. Ich dachte, alles nur nicht das. Ich sagte, es gefalle mir, ich sähe mir noch was an und würde mich dann melden.
Ich nahm dann das nächst Bessere. Das Mehrparteienhaus gehörte einem Bäcker, der nicht nur selbst im Erdgeschoss wohnte, sondern auch seine Frau, die Backstube und ein kleines Ladenlokal, mit Bewirtung im Hinterhof an Plastikgarnituren durch Kaffee, Kuchen und Nachmittagsgesprächen, in seinem Haus beherbergte. Das Haus durchdrang ein intensiv, süßlicher Geruch, immer. Das Ehepaar zeigte mir mehrere Zimmer. Sie vermieteten nämlich nicht die Wohnungen, sondern nur einzelne Zimmer in den Wohneinheiten. Auf der ersten Etage ging das so weit, dass nur die linke Wohneinheit ein Badezimmer und nur die rechte Wohneinheit eine Küche besaß. Zu meiner Erleichterung gab es in der zweiten Etage eine Wohnung mit zwei Zimmern und allem inklusive. Soweit möbliert, Heizung zentral, Fensterscheiben einfach verglast und in einst weiß gestrichenen Holzrahmen gefasst, warmes Wasser mittels Gastherme, ein Wintergarten schloss an die Küche an und das weitere Zimmer war derzeit nicht vermietet.
Dort blieb ich und ich blieb allein. Auch als das andere Zimmer meiner Wohneinheit ab und zu bewohnt war. Die Wohneinheit verließ ich nur, um zwei Kommilitonen zu treffen, um sporadisch in den Abendstunden in der Fakultät eine email zu verfassen und ich musste einkaufen gehen.
Ich hatte meinen großzügigen Dispo ausgereizt und jetzt bekam ich Probleme.
Der Markt um die Ecke hatte die Eigenart Hartgeld an der Kasse nur anzunehmen, wenn man es Münze für Münze in einen kleinen Automaten steckte, der am Kassenbereich montiert war. Selbstverständlich rutschte schon mal eine Münze durch und man entnahm sie und warf sie erneut ein. Manchmal blieb auch eine Münze stecken, dann rüttelte der Kassierer genervt am Automaten, bis sie fiel. Wenn ich vom Konto nichts mehr abheben konnte, suchte ich zunächst aus meinen Taschen Wechselgeld zusammen. Danach griff ich auf ein Schälchen Kleingeld zurück. Je tiefer ich in das Schälchen vordrang, desto konsequenter bestanden die Münzen aus Kupfer.
So kam ich mit meinem Pfandbeutel im Markt an, wusste bereits in welchen Kästen das preisgünstigste Bier aufbewahrt war und ergänzte das, damit ich nicht soviel schleppen musste, mit dem preisgünstigsten Wein. An der Kasse wurde der Pfand gemustert und berechnet. Den Restbetrag warf ich, Münze für Münze, in den Automaten. Nicht zu rasch hintereinander, da sich sonst die Gefahr vergrößerte, dass eine stecken blieb. Man brauchte den richtigen Rhythmus. Es überstieg meine Kräfte, nicht mitzubekommen, dass weitere Kunden warteten oder was der Kassierer still bei sich dachte. Ich konzentrierte mich darauf in zehn Minuten die Wohnungstür hinter mir schließen zu können und dann Ruhe bis zum nächsten Abend zu haben.
*
Ausschreiten. Letzter Akt
In dieser Zeit öffnete ich einen Brief. Der Studiendekan schrieb mir, zwei Sachen. Zum einen war ich aufgefordert mich zu den Prüfungen zum Vordiplom anzumelden. Zum anderen lud er mich zu einem Gespräch in seinem Büro ein. Ich kam der Einladung nach. Der Studiendekan war freundlich, sogar entgegenkommend. Er hatte in den ersten Semestern einen Narren an mir gefressen. Im Prinzip schien er meine hilflose Lage abschätzen zu können und bot mir an, mit mir durchzusehen, was ich für die Prüfungen in Erfahrung bringen müsste. Ich lernte aus kopierten Mitschriften meiner Kommilitonen und angegebenen Büchern. Am Ende bestand ich, ohne Erfolgserlebnis. Ich nahm diesen erneuerten Kontakt zur Fakultät nicht zum Anlass mein Studium wieder in Präsenz aufzunehmen.
Einer der wenigen Kontakte unter den Kommilitonen, die ich zu der Zeit noch hatte, war derweilen umgezogen. Ganz in meine Nähe. Dort besuchte ich ihn und seine acht Mitbewohner. War ich dort, war immer was los. Sehr oft fröhliches Beisammensitzen auf Holzbänken unter drei Apfelbäumen bei Kerzenlicht und Wein. Es war das Haus einer Studentenverbindung. Und es stellte sich heraus, dass sie mich gern bei sich wohnen gehabt hätten. Als mir kurz darauf deutlich wurde, dass ich Schwierigkeiten bekommen würde, meinem Bäckermeister und seiner Frau weiterhin die Miete zu zahlen, die ich ihnen schuldig war, zog ich um. So hatte ich vielleicht zwei oder drei Jahre verlebt.
*
Das Haus der Verbindung zeigte schnell seine Vorzüge. Kästenweise Bier griffbereit im kühlen Keller. Niemand wunderte sich, wenn ich mit einem Bier durchs Treppenhaus schlich. Sondern freute sich und stieß mit mir an. Wenn ich Nachts um zwei erst richtig in Fahrt kam, war ich nicht allein und wenn ich Nachmittags aufstand, auch nicht. Ich begann wieder ausgesuchte Lehrveranstaltungen zu besuchen.
So vergingen die Semester. Die Bewohner wechselten. Der Zauber verflog. Erneut trank ich für mich allein. Holte ich Bier, beeilte ich mich durchs Treppenhaus und hielt die Flasche auf dem Rücken. Begegnete ich unvermittelt einem Hausbewohner erschrak ich.
Inzwischen gab es einen neuen Professor an der Fakultät, der so neu war, dass er keinen der bestehenden Lehrstühle besetzte, sondern ihm ein Lehrstuhl eingerichtet wurde. Ich bemühte mich nur noch dessen Veranstaltungen zu besuchen. Und ich bemühte mich, dessen Veranstaltungen zu besuchen.
In einem Lektüreseminar versuchte ich schließlich alles aus mir herauszuholen. Jetzt wollte ich mehr vom Stoff und mehr von mir. In den Seminarsitzungen war ich auch immer recht beeindruckt - von mir. Allerdings dachte ich, dass meine Beiträge noch präziser hätten vorbereitet sein können. Und es fiel mir auf, dass dies die einzige Lehrveranstaltung meiner Woche war. Bei den anderen war es, vielleicht nicht qualitativ, aber quantitativ, eine unter vielen anderen. Als ich ein paar Tage später, am frühen Abend, zum Einkaufen unterwegs war, blickte ich einem der anderen Professoren ins Gesicht. Wir grüßten uns kurz aus der Distanz durch Kopfnicken. Sobald ich wusste, dass ich aus seinem Blickfeld verschwunden war, überkamen mich Schauer. Ich wollte keinen Schritt mehr tun und im Boden versinken. Ich fühlte mich ertappt. Peinlich war es mir. Ich war betrunken - noch vom Vortag.
Dabei wurde mir etwas klarer. Wenn ich für das Lektüreseminar arbeitete, dann kam ich auf nicht mehr als zwei Stunden am Tag. Vielmehr blieb nicht, zwischen Ausnüchtern und neu ansetzen.
*
Im vierten Jahr auf dem Haus der Verbindung hatte ich mich von allem abgekapselt. Fast allem. Wach wurde ich gegen Acht, Abends. Dann trank ich bis zum nächsten Vormittag auf meinem Zimmer.
In den zurückliegenden Jahren hatte ich mir immer mal wieder, so zwei, drei mal im Jahr, vorgenommen, den einen Abend nicht zu trinken. Am Ende des Jahres konnte ich mich an diese Nächte noch genau erinnern. Es waren Kämpfe, die ich gegen ein Uhr Nachts an Nachtschaltern von Tankstellen verlor.
Diesmal dachte ich nicht, ich will versuchen heute Abend nichts zu trinken. Ich sah nicht mehr, wie mir das Leben noch etwas bieten konnte. Der letzte Weg, etwas Lebendiges an mir zu spüren, war zu entziehen. Dachte ich. Dabei zielte ich nicht auf nüchternes, selbstbestimmtes Leben, losgelöst von Sucht, sondern auf einsetzende Schmerzen und Kämpfe die in den nächsten zwei Stunden begännen, würde ich mich heute Abend nicht versorgen. Das einzige Abenteuer, das blieb.
Ich legte mich auf meine Matratze. Um möglichst wenig in mich hinein zu horchen lief durchgehend der Fernseher. Ab und zu konnte ich kurz schlafen. Ich lauerte, ich beobachtete.
Ich glaube nach drei Tagen bemerkte ich Inseln klarer Energie. Es war mitten in der Nacht. Ich duschte. Ich hörte aus keiner Etage Geräusche. Ich schlich ins Erdgeschoss zu den Gemeinschaftsräumen und sah mich um.
In den folgenden Tagen und Wochen wurde ich etwas sicherer und traute mich mehr. Ich eroberte etwas wache Zeit am Tag. Zwar konnte ich nun einschlafen ohne getrunken zu haben, doch die wache Unruhe, die mich zum Trinken hin schrie, verschwand nicht. Als ich zu Anfang noch schlapp und zerstört gewesen war, genügte es, auf der Matratze vor mich hin zu dösen bis ich wieder einschlief. Während der Fernseher lief. Doch je mehr Kraft sich entfaltete, desto weniger war das eine Option. Ich musste mich anders ablenken. Verausgaben. Ich begann zu putzen. Die Gemeinschaftsräume. Stundenlang. Zunächst wieder in der Nacht. Aber ich wurde zufrieden mit und über meine Tätigkeit und ich riskierte es auf Andere zu treffen. So putzte ich am Tag.
Dann war die Stunde gekommen, in der ich mich sauber genug fühlte um raus zu gehen. Und ich entdeckte das Verlangen meine Schuhe fest zu schnüren und auszuschreiten.
Wer nun glaubt, ich hätte seit dem nicht mehr getrunken, der irrt sich.
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friedrichwill · 2 years
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friedrichwill · 2 years
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Der Poet
... und sein Schatz trägt heut das Kleid, das er liebte, blau mit weiß. (Schöne, Poetisches Begräbnis)
Während einer Zigarettenpause bei der Arbeit fragte ich meinen Kollegen wie es seiner Schwester geht. Erschrocken schaute er nach mir. Nach einer Weile: sie ist gestorben.
Am selben Tag noch traf ich mich mit meinem Betreuer im Park. Er hatte wie üblich Kaffee in einer Thermoskanne mitgebracht. Diesmal auch eine Decke. Er legte sie auf eine Bank. Unsere Themen wechselten schnell. Dann redeten wir über Sterbehilfe, dann Trauerfeiern, dann über ein mögliches Gottesgericht am Ende eines gelebten Lebens. Im Gespräch wurde deutlich, dass er - aus eigenen Erfahrungen - das Sterben möglichst kurz zu halten wünscht. Und obwohl er vielleicht sowas ähnliches wie Agnostiker sei, wäre er schon gespannt darauf, was danach komme. Und sollte dann nichts kommen, könnte er sich nicht mehr darüber ärgern.
Mit blauen Lippen bekannte ich: Ich habe keine Angst vorm Sterben, aber vor dem Tod.
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friedrichwill · 2 years
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Ich atme Deutschlandfunk
Denke ich zurück, war es in der Zeit meiner Oberstufe, dass ich - nachdem ich die ersten Stunden im Bett verschwänzte - immer öfter mit leichtem Schwindel zur Schule lief. Dabei hatte ich einen walkman in der Jackentasche und Deutschlandfunk auf den Ohren.
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Ein Medium ist nie nur Information oder Unterhaltung oder Zerstreuung usw, sondern ist Teil dessen, was einen Lebensstil prägt. Lebensstil ist, denke ich, einfach das, was aus der selben Suppe wie Haltung oder Wertegerüst zu entsteigen pflegt. Selbstredend sind die Begriffe nicht deckungsgleich.
Das Programm von Deutschlandfunk war mit, zur Nachfolge verführender, Umsicht und Tiefe gestaltet. Ganz frei kann ich zugeben, dass, was die Zerstreuungsprogramme angeht, die der privaten Fernseh-Sender wesentlich besser waren. Deutschlandfunk verhieß aber etwas anderes: mit Kompetenz und Arbeit die Spur des Ewigen aufnehmen; ja.
Ich habe den Eindruck, dass die Generation, die heute youtube maßgeblich gestaltet, selbst noch auf die ein oder andere Weise mit dieser Programmierung aufgewachsen ist. Und ich habe den Eindruck, dass viele von ihnen danach streben, dies ihnen Vertraute nachzuahmen, zu erreichen, zu entfalten.
Ich freue mich immer noch über die deutschen Öffentlichrechtlichen. Auch wenn ich sie nicht alleine bezahlen kann.
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friedrichwill · 2 years
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Gedanken sind Verehrer.
Sie nehmen dich mit auf den Rummelplatz, fahren mit dir Riesenrad, geben dir Zuckerwatte aus.
Machst Du ihnen Platz im Badezimmerschrank, stellst sie deinen Freunden vor und fängst an mit ihnen zu planen werden sie eklig.
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friedrichwill · 2 years
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Ein Lampenschirm
Fest verbunden in meiner neuen Wohnung bin ich, du ahnst es, mit meinem Bett. Von hier aus regiere ich meine heimische und heimliche Welt. Von hier aus reguliere ich meinen Tag. Das Bett nimmt mich auf und macht mich glücklich.
Wenn ich auf diesem Bett liege, sehe ich alles andere als das Bett. Und am häufigsten sehe ich die Deckenlampe. Auf den Lampenschirm drumherum bin ich stolz. Er macht ein wunderbares Licht. Den hab ich gebraucht, nur mit zwei ähnlichen Schirmen im Paket bekommbar, im Internet gekauft. Aufgehängt habe ich ihn mit meinem Bruder in meiner neuen Wohnung. Dazu musste ich vorher den Küchentisch zusammenbauen, den ich vor langer Zeit aus dem Haushalt meiner Eltern übernommen hatte. Sie schafften ihn an, als ich etwa Vier war und wir in die Plantanenstraße zogen, Pieschen. Den Tisch brauchte ich jetzt, weil es die einzige Möglichkeit war die Zimmerdecke zu erreichen. Mein Bruder musste dazukommen, weil meine Schraubendreheraufsätze zu groß sind für die Schrauben der Lüsterklemme. Er hat kleinere. Außerdem hat er Spaß am werkeln. Es hat ewig gedauert die Schrauben der Klemme zu lösen und wieder zu schließen. Waren wir zu doof oder dauert das immer so lange? Das Lampenfassungskabel haben wir für die richtige Länge eins, zwei, drei, vier, fünf mal eingedreht. Anschließend haben wir die Sichtblende darüber geschoben. Sie hielt kaum. Als dann das Bett in Einzelteilen ankam, bin ich mit einer der Leisten gegen den Schirm gestoßen. Seit dem ist der Sichtschutz wieder komplett nach unten gerutscht und der Kabelsalat liegt offen. Ich werde den Tisch unter die Lampe schieben und die Sichtblende mit Klebeband fixieren, bald. Dann müsste alles in Ordnung sein. Zumindest das.
Von dem Lampenschirm erzähl ich dir. Das wichtigste ist für mich sein warmes Licht. Eigentlich müsste er für eine Stehlampe gedacht sein, deshalb ist der Schwerpunkt zu tief für einer Deckenlampe und ich muss ihn falschrum hängen lassen; so ist er nicht schief. Ich
Es sieht im ersten Moment ungewöhnlich aus, stört aber nicht. Das zweite, dass er vielleicht aus Leder ist. Besser gesagt aus Haut. Ich hatte diesen grußeligen Verdacht von Anfang an. Als mein Vater die Lampe in meinem alten Zimmer sah, erzählte er mir spontan, dass bei ihm zu Hause, in seinem Elternhaus, auch eine Lampe hing, die aus Haut zu sein schien. Irritierenderweiße waren blaue Markierungen darauf. Wie von Tätowierungen. Als seine Eltern gestorben waren hat er den Lampenschirm so schnell und so heimlich es ging entsorgt. Ich hatte den Eindruck, dass er viel Zeit in seinem Leben damit verbracht hat nicht daran zu denken. Ich glaube, er bemerkte noch, dass es wahrscheinlich nicht das gewesen sei, dafür war sein Vater nicht hoch genug gewesen.
Mein Schirm hat nicht den Anschein von Tätowierungen. Er hängt einfach nur verkehrt herum und die Sichtblende ist heruntergerutscht. Und obwohl er ein schönes Licht macht, mach ich ihn so wenig wie möglich an. Weil ich noch keine Vorhänge habe und fürchte, die Nachbarn könnten mich beobachten. Vorhänge muss ich noch kaufen, denke ich manchmal. Ich meine, falls Du mich mal besuchst. Du sollst dich ganz wohl und frei fühlen. Vielleicht regieren wir dann meine Welt gemeinsam für ein paar Stunden. Von meinem Bett aus, während die Kaffeemaschine knackt. Und wir sehen den Lampenschirm, ganz beiläufig. Was sollten wir ihn auch groß beachten. Es gibt wichtigeres.
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friedrichwill · 2 years
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friedrichwill · 2 years
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friedrichwill · 2 years
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Eines Abends fühlte er sich eingezogen. Verhaftet. Festgelegt auf seine neue Wohnung. Und ihm wurde endlich wohl dabei. Den Tag zuvor hatte er mit der Mutter telefoniert. Sie zog nun bald selber um. Erst ein paar Minuten zuvor war der Bruder aus seiner neuen Wohnung aufgebrochen. Sie hatten ein wenig geredet, Kaffee getrunken, und der Bruder hatte sich eine Fahrradtasche geliehen. Zwei Tage zuvor war der Bruder und der Betreuer so freundlich gewesen, einen Wäscheschrank von dessen Verkäufer abzuholen und in der Wohnung aufzustellen. Bezahlt von dem Geld, dass das Amt genehmigt hatte. Dunkles Vollholz, mit Füßen und Krone, Bierlack. Schwer ist er. Eventuell hatten sie beim Transport im Treppenhaus Schäden an der Wand verursacht. Er schrieb der Hausverwaltung deshalb eine mail. Und nicht zu vergessen, das Bett in dem er wieder Schlaf fand. Das Bett hatte der Betreuer für ihn aus J. besorgt. Zwei Meter mal Einsvierzig, stolze Fünfundsechzig hoch. So schwebte er über den Wassern nächtlicher Träume und alltäglicher Sonnenumarmungen. Auch aß und kochte er wieder. Der Bruder hatte ihm einen seiner Töpfe geschenkt und ein Rezept hatte er sich von einer Freundin besorgt. Spaghetti mit Thunfisch-Tomatensoße.
So war er also eingezogen. Mit ihm zogen nur noch ein, seine Mutter und sein Bruder, das Amt und sein Betreuer, und ...
Das sind die Geschichten eines Einzugs in ‚etwas Größeres‘. (Der Okkupant)
***
>>Ja, natürlich… Das passt mir gut … Also am Mittwoch Elfuhrdreißig.<<
Und Du, wie geht's Dir? Mein Telefon hat heute geklingelt und ich ging ran. Ich war gerade frisch geduscht und ausgeschlafen. Ich kannte die Nummer nicht und vermutete es sei die Maklerin. Es war die Maklerin, die mir für meine favorisierte Wohnung absagte, aber eine für mich mögliche andere Wohnung ausfindig gemacht haben wollte. Wir verabredeten uns und ich legte wieder auf.
Gruß O.
***
Na? Geht es Dir gut?
Heute war es bei mir so weit. Überpünktlich, zwanzig Minuten vor der Zeit, stand ich mit meinem Fahrrad vor dem angegebenen Haus. Ich schloss das Fahrrad ab. Ich suchte dafür einen Standort, nah beim Haus, der möglichst wenig Unmut erregen würde. Meine Wahl fiel allerdings auf eine Begrenzungshecke. Gewissermaßen lehnte ich das Rad gegen die Hecke und die Hecke nahm es ein Stück in sich auf. Am Fuß der Hecke war ein Steinsockel, an dem das Tretlager gegenstieß, aber immerhin. Beim anschließenden Erkundungsspaziergang, den ich unternahm um nicht zwanzig Minuten vor dem Haus herum zustehen, überlegte ich mir, dass eventuell jemand um diese Hecke besorgt sein könnte oder es als eine Art Grenzverletzung empfinden könnte. Egal, ich korrigierte meine Entscheidung nicht mehr.
Die Maklerin kam pünktlich mit ihrem Auto vorgefahren und dann gebremst. Zügiger Fahrstil. Hektisches Aussteigen. Unkomplizierte Begrüßung. An meinem Fahrrad nahm sie keinen Anstoß. Wenn sie bitte mitkommen wollen. Die Maklerin kannte, wie sie bereitwillig einräumte, die Wohnung noch nicht. Kein Problem, ich finde sie toll. Schönes helles Laminat. Schicke Gegend. Bad mit Fenster und Dusche. Und eine Küche. Im Preis inbegriffen? Ach ja. Ein Balkon. Das ganze zum Hof. Alles Klasse. Nehm' ich sofort. Dann ist das abgemacht. Sie, die Maklerin, fährt in drei Tagen in den Urlaub. Nach Madeira. Bis dahin macht sie alle Unterlagen klar. Die wichtigsten Angaben hat sie ja schon, von der letzten Wohnung. Entschuldigung noch einmal, dass das nicht geklappt hat. Alles Weitere müsse ich dann mit der Wohnungsverwaltung klären. Wann wollen Sie einziehen? Ende Februar? Ok. Wird vermerkt.
Hat sie gesagt. Das kann was werden…
***
Hallo meine Schöne. Sitze jetzt, nach der Wohnungsübergabe, in meiner neuen, leeren Wohnung. Ganz schön klein. Naja, wird schon. Es schneit gerade.
Die Übergabe wurde vom Seniorchef persönlich durchgeführt. Er beschäftigte sich eine Ewigkeit mit Papieren. Ich hatte die Nacht vorher nicht geschlafen und drohte irgendwie umzukippen. Ich sollte nach Mängeln schauen. Ecke hier, Kratzer da. Der Seniorchef war so fair und half mir ein wenig. Das bedeutete, dass er noch länger für seine Papiere brauchte. Egal, ich habe es überstanden. Die Wohnung ist jetzt meine. Das heißt, unter den üblichen Auflagen. Ummelden, Strom anmelden, Haftpflicht- und Hausratversicherung, ich muss auch noch mal ins Büro der Hausverwaltungsgesellschaft und was unterschreiben. Aber dann… ist sie meine. Naja, gemietet.
Fröhliche Grüße aus E., O.
***
Ob ich alles geschafft habe??? Jo. Alles geschafft. Umzug hat geklappt und ist fertig. Fühl mich aber gar nicht gut in der neuen Wohnung. Fühl mich noch sehr zu Gast. Auf eine unangenehme Art.
Wir waren heute zehn Uhr verabredet. Ich hatte meine alten Mitbewohner und meinen Bruder gefragt, ob sie mir heute helfen wollen würden. Auto und Fahrer waren organisiert. Ja, natürlich. Sagten alle. Und fast pünktlich waren dann auch alle da und bereit. Die Tage und die Nacht zuvor hatte ich meine Sachen abgebaut, in Kisten gepackt und aus der ersten Etage ins Erdgeschoss in die Nähe der Haustür gestellt. Dazu kamen noch die Dinge, die ich seit Jahren auf dem Dachboden gelagert hatte. Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich beim Tragen Hilfe brauche. Mal lehnte ich ab, zweimal nahm ich an.
Jetzt brauchten wir meine Sachen nur noch von der Eingangstür in den vor dem Haus geparkten Transporter zu befördern. Wie so oft bei Umzügen, stellte sich das richtige Einladen als eine Schlüsselkompetenz heraus. Ein Jemand scheiterte und wir fuhren zweimal. Während nun die Truppe Eins die bereits ausgeladenen Sachen aus dem neuen Hof in die neue Wohnung und das neue Kellerabteil trug, belud die Truppe Zwei den Transporter erneut an der alten Wohnung. Truppe Eins bildeten ich und mein Bruder, Truppe Zwei meine alten Mitbewohner, die dann mit der Fuhre Zwei an meiner neuen Wohnung ankamen. Am Ende kann man sagen, dass es zügig ging. Alles in allem anderthalb Stunden.
Weil es sich so gehört, und es mir so lieber war, hatte ich fünfzig Euro für Pizza vorbereitet. Ich fragte einige, ob sie Lust drauf hätten und ob ich sie einladen durfte. Ich durfte. Auf dem Rückweg zur alten Wohnung, den ich mit meinem Bruder gemeinsam zu Fuß antrat, kaufte ich drei riesige Pizzen. Etwas unsicher war ich, ob ich den allgemeinen Geschmack treffen würde. Doch die Bbq-Soße wurde sehr gelobt.
Jetzt ist meine Wohnung ein riesiges Chaos. Lässt sich nicht an einem Tag schaffen. Habe noch nicht mal ein Bett oder Töpfe - wer braucht das schon.
Erschöpft und erleichtert grüßt O.
***
Hey. Schade, dass Du Dich nicht meldest. Bin nun schon ein paar Tage eingezogen. Habe nackt geduscht und auf der Toilette gekackt, habe auf dem Balkon geraucht, bin durchs Treppenhaus getrampelt, habe Nachbarn begrüßt, habe meine Sachen notdürftig in der Wohnung verteilt. Möbel fehlen noch und Küchenutentilien. Ich würd sagen, falls mal jemand zu Besuch kommt. Aber das wichtigste ist da, Internet. Den ersten Dreck habe ich auch schon gemacht. Und bevor meine Schwester mit ihrem Freund zu Besuch kam hab ich hier zum ersten Mal sauber gemacht. Eine ganze Nacht lang. Das heißt, eigentlich habe ich Dreiviertel der Nacht mit Wäschewaschen verbracht. Ich musste dazu in meine alte Wohngemeinschaft. Hab mich dort mit meinem laptop ins Wohnzimmer gesetzt, während Waschmaschine und Trockner wiederholt liefen. Morgens bin ich dann mit der Wäsche in meine neue Wohnung und habe dann dort allen Müll zusammen gesucht und runter gebracht. Anschließend habe ich auf allen Vieren mit einem Lappen über den Fußboden der Wohnung gewischt. Ein Staubsauger hätte gut getan.
Regiert habe ich mein Reich bis jetzt von einer Luftmatratze aus. Habe darauf gelegen, gleich unter dem Fenster mit der Abendsonne, und von Dir geträumt. Manches Mal liege ich ganz still auf ihr und beobachte, wie es langsam dunkel wird. Es ist dann beinahe ohne Geräusche. Bis auf das Summen des Kühlschrankes und das gelegentliche Knacken der Kaffeemaschine. Die Stille rauscht mir in den Ohren. Jetzt muss ich die Vermutung anstellen, dass die Matratze ein Loch hat. Sie verliert ganz klar mehr Luft als gewöhnlich. Macht nichts, hab ja noch einen Sessel. Wird das eben mein neuer Thron.
Einen fröhlichen Sonntagmittag. Hoffentlich bist Du nicht schon durch vor lauter Wochenende. Hast es ja jetzt fast geschafft.
***
Ich hab schon länger nichts von dir gehört? Wie gehts dir denn?
Hab mich die letzten Tage ebenfalls verkrochen. In meiner neuen Wohnung. War fertig und konnte keinen mehr sehen. Aber gestern habe ich meine Höhle wieder verlassen. War beim Friseur. Heute waren sie nämlich endlich doch noch da. Die Begutachter vom Amt. Das Amt zahlt meine Miete und meine Mutter bürgt für die Wohnung. Ich verwalte.
Zwei Damen waren da. Sie kamen die Treppe herauf. Als eine der Damen mich an der Wohnungstür sah, schob sie sich ihren Schal vor den Mund. Ich begrüßte sie. Sie schauten sich alles rasch an. Die ohne Schal hakte eine Strichliste ab. Ein richtiges Gespräch kam nicht zustande. Ich hatte schon vorher eine Waschmaschine besorgt und in der alten WG untergestellt. Sie sollten die nicht sehen, damit ich das Geld dafür kassieren kann. Bad, Küche, Wohnraum. Keller wollten sie nicht sehen. Zum Glück, da hätte ich noch ein altes Bett liegen gehabt. Zwar ohne Matratze, aber immerhin. Ich hätte erklären müssen, dass das Bett zu groß für die Wohnung sei. Bestimmt kein stichhaltiges Argument. Ging aber alles gut. Geld komme so in etwa zwei Wochen.
Liebes Grüße aus meiner neuen Wohnung. Hoffe dir geht es besser.
***
...und dann ist auch noch mein laptop plötzlich ausgegangen. Abkühlen lassen, wieder angemacht, viren check, wieder ausgegangen. Da hab ich ihn aufgeschraubt und das Lüftungsrad von Staub und Dreck befreit. Dann wieder zusammen geschraubt. Eine Schraube ist übrig. Naja, irgendwas ist immer.
Sonst ist meine Wohnung vorläufig eingerichtet. Das heißt, vieles von dem was in die Wohnung gehört hab ich vom Keller heraufgeholt, und vor allem vieles von dem was ich gerade nicht unmittelbar brauche habe ich in einer Nacht und Nebel Aktion in den Keller gebracht.
Jetzt kommt man die Treppe hinauf in den ersten Stock, in dem sich, wie in allen drei Etagen, drei Parteien befinden. Meine Wohnungseingangstür befindet sich am Ende des Treppenaufgangs gleich links.
Öffnet sich die Tür, steht man in einem kleinen Flur. Hinter der geöffneten Tür lehnt ein Liegestuhl an der Wand. Der gehört eigentlich noch in den Keller. Genauso wie die Bücherkiste, die an der Stirnseite des Flurs steht. Gleiches gilt für das Bügelbrett, einen crate-Verstärker, meine elektrische Gitarre - ich hab sie seit Jahren nicht mehr genutzt, und zuletzt meinem Bruder geliehen und von dort Vorgestern zurückgeholt - und einen rotbraunen Ziegelstein. Außerdem steht da dort meine Kraxe. Die ist noch bis zum Rand mit frisch gewaschenen Klamotten gefüllt, von meiner letzten Waschaktion in meiner alten Wohngemeinschaft. Von den Dingen aus dem Flur gehört genau genommen nur der Besen noch in die Wohnung. Der Besen war ein Geschenk meines Bruders. Er hat ihn mir ungefragt vorbei gebracht.
Am rechten Ende des Flurs befindet sich die Tür zum Badezimmer. Badewanne gibt es nicht, stattdessen Dusche; gleich wenn man das Bad betritt, gegenüber der Tür. Links daneben die Toilette. Darüber ein Sims. Dann das Waschbecken. Gegenüber die Anschlüsse für eine Waschmaschine, am Ende des Zimmers ein kleines Fenster, noch ohne Sichtschutz.
Auf der anderen Hand des Flurs befindet sich die Tür zum Rest der Wohnung. Betritt man den, habe ich links neben die Tür, bzw. hinter das geöffnete Türblatt, ein Wäscheregal aus Ziegelsteinen und Brettern gebaut. Es folgt an der Wand einer der beiden DDR Sessel, die ich mal für fünfundzwanzig Euro das Stück in E. gekauft habe. Wiederum daneben lehnen meine beiden Bilder. Davor steht ein Blumenkübelständer. Darauf ein altes Küchentablet, als Intarsie eine Entenszene, das ich zur Ablage meiner Tabakutentilien benutze. In der Zimmerecke haben die drei ineinandersteckbaren Beistelltische Platz. An der Wand, die gegenüber der Tür liegt, lehnt ein Spiegel an der Heizung, die unter dem ersten Fenster verbaut wurde. Außerdem eine zusammengeklappte Fußwippe. Davor ein weiterer Beistelltisch, mit Flieseneinlagen auf der Oberseite, und ein Stuhl mit rotem Samtbezug und Geflecht im Rücken. Fenster hat die Wand drei. Das heißt, das mittlere Fenster ist eigentlich die Balkontür. Tür und Fenster sind sehr schmal gehalten. Der eisenumgitterte Balkon ist mit einer Bambusmatte verblendet. Auf dem Boden liegt eine holzartige Auslegware. Rechts neben der Balkontüre, unter dem dritten Fenster, soll irgendwann mein Bett stehen. Zur Abtrennung des Schlafs- zum Wohnbereich habe ich, wiederum aus Ziegelsteinen und Brettern, etwas Regal aufgestellt. Eine meiner Pflanzen, mein laptop und bei Bedarf meine Kaffeetasse, finden darauf Platz. Vom Schlafbereich blickt man direkt in die Küche.
Die Küche ist, ohne Tür, durch eine Vererkerung des Raumes etwas vom Rest abgetrennt. Zusätzlich habe ich einen alten Küchentisch davor aufgestellt, den ich zur Zeit als Schreibtisch nutze. Jetzt schon zugemüllt mit meinem Hauptpapiereordner, geöffneten Briefen, Medikamenten, leeren Flaschen usw. Darunter sind meine eigentlichen Papiere und Schreibtischsachen in zwei Bananenkisten verstaut. Für den Raum ist er zu groß. Ich muss mir eine andere Lösung überlegen. Die Küche selbst besitzt ein weiteres Fenster und ist einheitlich gestaltet. Sieht noch recht neu aus. Ein sehr helles braun/ holzfarben, mit roten Leisten. Kühlschrank, Cerankochfeld. Hängeschränke. Dunstabzugshaube. Auf der Arbeitsplatte, rechts neben dem Kochfeld, habe ich meine zweite Pflanze stehen, daneben zwei meiner Gießkannen, eine eher klein, Steingut, blau mit weißen Tupfen, die andere braun, doppelt so hoch, selbstgetöpfert. Daneben weiteres Getöpfertes, zum Teil noch in Zeitungspapier eingeschlagen. Links neben dem Kochfeld, in der Ecke, stehen zwei Kaffeemaschinen. Eine läuft immer. Es folgt die Spüle und etwas Papiermüll.
Verlässt man die Küche, kommt man linksherum zu einem kleinen Stück Wand, welches schließlich wieder mit der Tür abschließt. Hier soll später ein Schreibtisch stehen. Jetzt steht da der rote Sessel mit den geschwungenen, hölzernen Armlehnen. Davor der kleine, runde Spieltisch.
O.
***
Na? Wie is es bei Dir? Wochenende, ich weiß.
Am Mittwoch habe ich meinen pädagogischen Betreuer vom Werk für psychisch kranke Menschen getroffen. Zum dritten Mal hintereinander war ich zu spät am verabredeten Treffpunkt. Mein Betreuer hat mit mir in den vergangenen Wochen die Wohnungsanzeigen im Internet durchforstet. Er war mit mir bei Wohnungsbesichtigungen und der Wohnungsübergabe. Er hat mir den Umzug gefahren und er fährt für mich Möbel, die ich auf ebay-Kleinanzeigen aussuche. So direkt hat mein Betreuer heute nichts gesagt. Aber so indirekt. Bin ich zufrieden mit mir und allem, ist er mit mir grundlegend unzufrieden. Meine Planlosigkeit, Ambitionslosigkeit, mangelnde Selbstfürsorge, keine Initiative erkennbar... Wie gesagt, das habe ich aus unserem Gespräch erraten. Mein Bruder hat mir, in sehr herablassender Attitüde übrigens, dasselbe angedeutet.
***
Eigentlich fand ich die Idee, eine - meine - Wohnung einzurichten aufregend. Jetzt suche ich nur noch widerwillig in den Kleinanzeigen. Was soll ich mit der Bude anfangen, wenn sie eingerichtet ist? Im Moment fällt mir nur die Lösung von 'fight club' ein. Ich hab mich ja immer so über das Knacken meiner Kaffeemaschine gefreut. Heute Nacht hab ich das Gefühl gehabt, die Maschine raubt mir die Luft zum Atmen. Verbraucht allen Sauerstoff. Ich ersticke gleich. Oder vergehe jedenfalls in meinem eigenen Mief. Also reiße ich alle Fenster auf. Und da ist sie dann wieder, die Welt. Eine Welt voller fertig eingerichteter Nichtraucherwohnungen, still und friedlich dahinschlummernd. Oder auch nicht. Wen interessiert‘s. Mich nicht. Ich will nichts von den anderen wissen. Hoffentlich wissen die anderen nichts von mir. Hoffentlich können sie mich nicht riechen.
***
Du bist so weit weg? Wahrscheinlich beschäftigt?
Bei mir ist es ganz still. War eben noch mal einkaufen. Unangenehm. Aber bei mir ist es leer und still. Und ich kann mich konzentrieren, wenn ich Lust dazu habe. Kann mich auch zerstreuen, wenn mir danach ist. Hab jetzt meinen Plan um mich herum skizziert, nun kann ich ihn bespielen. Bei mir ist es still und leer. Herrlich
***
Kuss. Komm mich besuchen. Still und heimlich. Oder auch Laut und mit Ansage. Komm, und wir spielen gemeinsam Verstecken vor der Welt. Ungehobelt grob oder ganz kleinlaut oder sogar sanft. Komm, Kuss, komm nur. Küsse deinen Hals entlang, Küsse um deine Brustwarzen, Küsse dahin, wo es dir steht. Kuss, komm.
***
Hallo, Du. Na? Ich schreib Dir einfach. Und Du liest von mir. Ja?
Ich rauche. Ich schlafe nicht, ich rauche. Ich esse nicht, ich rauche. Ich bin ganz Rauch. Allerdings habe ich aufgehört auf dem Balkon zu rauchen. Mein Betreuer hat mich drauf gebracht. Er sagte, tagsüber könnte keiner was sagen, bei so einer Zigarette in der Stunde. Aber nachts, Schlafen bei offenem Fenster? Das ginge nicht. Gerade nachts habe ich aber so gern geraucht, weil ich dachte, dass es keinen stört. Rauchen hieß für mich selige Einsamkeit, tiefgründige Entspannung, echte Autonomie. Wenn ich aber gewahr werde, jemanden damit permanent zu stören, klappt das nicht mehr. Jetzt verlasse ich das Grundstück zum Rauchen und gehe auf die gegenüberliegende Straßenseite. Da kann ich, über die Begrenzungshecke hinweg, meinen Nachbarn in die Fenster schauen. Eine violette, eine weiße und eine gelbe Fensterfronteinheit. Mit gefällt die Vorstellung, jetzt ein Leben so ähnlich wie sie zu führen. Auto, Fernseher, Kinder - und der schräge Nachbar. Find ich gut. So betrachte ich, vor allem nachts, beim Rauchen die Fenster meiner Nachbarn, und was sie mir Preis geben.
***
Eines Abends fühlte er sich dann doch eingezogen. Verhaftet. Festgelegt auf seine neue Wohnung. Und ihm war wohl dabei. Er lag auf seinem Bett und hatte sich nicht in Rauch aufgelöst. Es geht ja doch immer weiter, bis es einmal nicht mehr weiter geht. Und er schrieb die folgenden Zeilen:
Jetzt bin ich eingezogen in ‚etwas Größeres‘. Mit mir eingezogen sind meine Mutter und mein Bruder, das Amt und mein Betreuer, und Du. Ich okkupiere diese Wohnung, die größer ist als mein vorheriges Zimmer. Mit ihr besetze ich das Wohl meiner Mutter, das Leben meines Bruders, ich sauge an den Leistungen des Amtes und der meines Betreuers. Und zuletzt schreibe ich an Dich, immer wieder an Dich, Dir lege ich mein Leben dar, obwohl Du doch dein eigenes Leben hast.
Das sind die Geschichten eines Einzugs in ‚etwas Größeres‘. Der Okkupant.
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friedrichwill · 2 years
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Advent
Na Du? Danke für Deine Sprachnachricht. Hast Du dich schon eingemummelt?
Du hattest diese Woche scheinbar Spaß auf Arbeit. Ich schreib Dir heute, am Vorabend von Gaudete, von einem kleinen Abenteuer, um das ich in meiner Woche nicht herum gekommen bin. Pass auf.
In dem kleinen Sozialkaufhaus werd ich jetzt seit drei Monaten ganz gut beschäftigt und ich mach mich auch schon, glaube ich. Letzte Woche steh ich so im Laden rum und fülle gewissenhaft Regale auf. Da spricht mich eine vielleicht sechzigjährige Frau mit gebrochenem Deutsch und russischem Akzent an... und wedelt mit einer originalverpackten Universalfernbedienung herum. Ob ich wüsste, wie man die einstellt, damit sie dann ihren Fernseher bedienen könnte. Ja, das wüsste ich und könnte es ihr erklären. Nein, nein, sie könnte es nicht, ich müsste das machen. Nein, das geht nicht, hab ich da gesagt. Doch, doch, sie wohnt ja nur eine Straßenbahnhaltestelle weiter. Nein, das geht nicht, hab ich gesagt. Warum denn nicht, fragt sie. Weil ich arbeiten muss. Dann geht es doch nach der Arbeit. Bis wann ich arbeite? Bis um fünf. Danach wäre ich gleich mit meinem Bruder verabredet. Aber, ich könnte doch das Treffen um eine halbe Stunde verschieben... sie würde morgen operiert und bräuchte dann ab morgen die funktionierende Fernbedienung. Ich überlege und denke... puh!
Aber, eventuell!? Während ich so in mich gehe, sagt sie, sie würde auch bezahlen. Ich sage, ich mach's, aber Geld nehme ich keins. Doch, doch, doch... ohne Geld geht das nicht. Sie fragt 30, oder ist das zu wenig? Sie fragt, 25? Ich zögere. Oder 20? Ich sage, zwanzig maximal. Ich sage, wir treffen uns viertel sechs an der Eingangstür des Ladens. Ich würde mein Fahrrad mitbringen und die eine Station dann fahren. Sie sagt ok und rauscht ab.
Zehn Minuten nach fünf stehe ich nach Feierabend am Hintereingang des Warenlagers und drücke in Ruhe eine Zigarette aus. Da schießt meine Chefin aus dem geschlossenem Laden: Vor der Eingangstür stände eine ältere Frau und würde ganz aufgeregt nach einem jungen Mann mit Fahrrad suchen. Ob ich der sei. Ich sage ja, alles in Ordnung, schließe mein Fahrrad ab und gehe nach vorne. Hallo - Hallo. Schön, dass es geklappt hat. Ob ich mein Fahrrad mit in die Straßenbahn nehmen würde. Ich sage, ich habe gar kein Geld dabei. Sie würde bezahlen. Nein, ich fahr die eine Station, wir sehn uns an der nächsten Haltestelle.
Die Bahn hält, sie steigt aus, sie deutet die Richtung an und zwischen parkenden Autos führt sie mich zu ihrem Hauseingang; ich trotte, mein Fahrrad schiebend, hinter ihr her. Angekommen erklärt sie mir, dass sie im Erdgeschoss, halbe Treppe, wohne. Ich solle mein Fahrrad mit hinein nehmen. Sie schließt ihre Wohnung auf, ich schiebe mein Fahrrad in den engen Flur. Sie führt mich ins Wohnzimmer. Ein flaches Fernsehboard, ein Fernseher, ein kleiner runder Tisch an der Wand, zwei Stühle und ein ausgeklapptes Sofa mit einer ausgebreiteten roten Decke darauf. Keine Bilder an den Wänden, kein Schmuck irgendwo, einzig eine Photographie eines Jungen. Vielleicht ihr Enkel. Aber am allerwichtigsten: Keine drei Russen, die mich verschleppen und mir eine Niere entnehmen. Ich bat sie um eine Schere um die Verpackung der Fernbedienung zu öffnen.
Ich wünsch Dir noch ne angenehme Adventsnacht. Vielleicht sehen wir uns ja, wenn es wieder wärmer wird. Schlaf gut, für heute.
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friedrichwill · 2 years
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highlife in the city
Wenn er nicht zugegen war, spielte ich in frühen Tagen eine Platte auf dem Plattenspieler meines Vaters; dann hörte ich den Titel 'highlife in the city'. Ich verstand die Liedzeile "das Ding hat er ausgemistet und sich darin eingenistet" als Handlungsaufforderung.
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Als unpraktisch veranlagter Mensch hatte ich aber keine Idee, wo ich ein Autowrack auf einem Wiesengrundstück finden könnte.
Und warten wollte ich auch nicht.
Also hielt ich mich an die Grundlagen ("er laß Hemingway, Karl May und Sigmund Freud") und wünschte mir von meinen Eltern zu Weihnachten - von Karl May hatte ich schon an die dreißig Bände gelesen - entweder ein Buch von jenem Hemingway oder aber von Freud.
Meine Eltern wunderten sich, zu Weihnachten gab es für mich “Die Traumdeutung“, aus dem Fischerverlag, von Sigmund Freud (zu erst erschienen im Jahr 1900). Sechzhundertvierundfünfzig Seiten.
So las ich das erste Sachbuch meines Lebens.
Zwar beanspruchte es mich ein ganzes Jahr, mehr und mehr fand ich aber Gefallen. Meine Erkenntnis: Durch nüchterne Beobachtung und vor allem der Kraft zur Analyse - also durch Denken - ist die chaotisch und bedrohlich wirkende Praxis zu durchkämpfen und auch zu bestehen. Genauer, indem man sie sachgemäß ordnet... und dies klappt sogar bis in das Reich jenseits des Eigentlichen. Also bis hinein in das Reich des Morpheus, das Reich des Uneigentlichen.
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In diesem Jahr war der Samen dafür für mich gesät, die Schreckgespenster meines Alltags mit einem geisteswissenschaftlichen Studium beikommen zu wollen.
Dem Umstand, dass Freud Jude war, hatte ich keine Bedeutung zugemessen. Ich dachte, das sei die Aufdeckung der Psychologie. Als ich dann viele Jahre später, während der Spätphase meines Studiums, auf jüdischstämmige Philosophen des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht wurde, dachte ich, mich tritt ein Pferd. Diese Denker hatten eine Weise die Praxis zu erfassen, die nicht nur das mir bis dahin übliche aufklärerische Denken als beleidigend beschränkt vorkommen lies, sondern mich augenblicklich und wehmütig an meinen Ausgangspunkt erinnerte. Die Traumdeutung. Von Sigmund Freud. Als ich diese Denker etwas näher kennenlernte, stellte ich immer wieder fest, dass diese sich mit dem Talmud beschäftigt hatten.
Von den Denkern, die man mir damals anvertraute, wurde mir Emmanuel Levinas am vertrautesten.
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Seine Hauptwerke erschienen auf deutsch unter:
Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, im frz. Original 1961.
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, im frz. Original 1974.
Unter anderem hat er sich auch mit dem Talmud beschäftigt, in so genannten Talmudlesungen. Hier exemplarisch vier Titel: Dem Anderen gegenüber - Die Versuchung der Versuchung - Gelobtes Land oder Erlaubtes Land - So alt wie die Welt?
Levinas arbeitete, indem er die gebräuchliche ontologische Semantik (also die Beschreibungen von Daseinsformen des Seins) in Begriffen des Moralischen wendete, und ihre - Bedeutung - abtastete.
Oder wie es Susanne Dungs mit den Begriffen Levinas pointiert zusammenfasst: „Thema der Lévinasschen Philosophie ist die schonungslose Ausgesetztheit an das Verletztwerden durch die Transzendenz des Anderen und zwar in Art eines Empfangens, das passiver ist als irgendeine Rezeptivität, so dass sich keinerlei immanentes Wissen daraus ableiten lässt. Sie führt zu einer Verantwortung, in der ich mich ebenso wenig vertreten lassen kann wie im eigenen Sterben“ (Susanne Dungs, Bildlichkeit bei Emmanuel Levinas, auf: http://www.theomag.de/25/sd1.htm)
Levinas hat es in seinem zweiten Hauptwerk 'Jenseits des Seins, oder anders als Sein geschieht' so zu erklären versucht: „Es heißt, die Möglichkeit einer – schmerzlichen – Trennung vom sein denken.“ (Lévinas, Jenseits des Seins..., S.35)
Das für mich Unerhörte dieser Art sich auszudrücken, bedeute, "daß an mich eine Anordnung ergeht, die mich an das Gesicht des Anderen weist. Aufgrund dieser Anordnung, die einer Weihe gleichkommt, ist die Nicht-Gegenwart des Unendlichen kein Ausdruck negativer Theologie. Alle negativen Attribute, die das Jenseits-des-sein aussagen, werden zu Positivität in der Verantwortung – einer Antwort, die einer nicht thematisierbaren Provokation antwortet und daher (...) Verletzung ist“. (Lévinas, Jenseits des Seins... S.43f)
Auf den Punkt gebracht:
Erstens: Eine Annäherung an den Anderen. (Wobei der Annähernde gegenüber dem Anderen eine Offenheit gewähren muss, die einer Bestürzung gleichkommt.)
Zweitens: Die Übernahme von Verantwortung für den Anderen.
Drittens: Bis hin zur Stellvertretung für den Anderen, um dem Anderen nah sein zu können.
Zum Abschluss: „Das Gesicht, dem man sich nähert, die Berührung einer Haut: das Gesicht unter der zunehmenden Last der Haut und die Haut, in der, bis hin zur Obszönität, das veränderte Gesicht atmet.“ (Levinas, Jenseits des Seins..., )
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friedrichwill · 2 years
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friedrichwill · 2 years
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kalte Schenkel - dankbar Xxxxxx
deine Schenkel sind kalt, du frierst. dein Herz ist alt, du gebierst.
du brachtest mich nicht zum lachen, du hattest immer das höchste Maß. ich dagegen wollte nur Spaß, wir mochten nie die gleichen Sachen.
deine Hände sind raspelrau, du packst zu, dein Verstand ist gewissentlich grau, du hast niemals Ruh – gehabt... das ist jetzt wahrscheinlich anders.
Ich liebte all das und hab's nicht gemerkt.
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