Digitale Religion - Ein Wandel der Gesellschaft
Google weiß alles, Google bestimmt unser Leben. Das Internet ist heutzutage nicht mehr wegzudenken, wir verlassen uns darauf. Im Mittelalter haben sich die Menschen auf Gott verlassen. Digitalität und Religion ist das vergleichbar? Wie passt das zusammen?
Zu Google zu beten ist vielleicht etwas überspitzt aber tatsächlich gibt es solche Trends, das digitale Technologien Religionscharakter bekommen können. Die Frage ist jedoch: Was passiert mit den klassischen Religionen, wie wir sie kennen? Sind sie einfach outdated oder brauchen sie nur ein großes Update? Und füllen digitale Religionen die Leerstelle, die der Rückgang klassischer Religionen hinterlässt?
Grundproblem: Sehnsucht nach Orientierung
Die Frage ist doch: Wofür brauchen wir Religion überhaupt?
„Menschen erfahren ihr Leben nicht allein als zufällig, sondern auch als „schlechthinnig abhängig“, als gefährdet und als keiner Weise notwendig oder von Gründen her vollständig erklärbar“ (Lübbe 2004: 174 zit. n. Zaborowski 2016: 24)
Der Philosoph Hermann Lübbe beschreibt hier anschaulich die Fragen, die wir uns alle stellen: Was ist der Sinn des Lebens? Warum gibt es uns? Wofür leben wir? Wer sind wir? Warum ist alles so, wie es ist, obwohl es auch anders sein könnte? Diese Fragen beschreiben die sogenannte Daseinskontingenz oder das Kontingenzproblem. Es besteht also ein großer Wunsch nach Erklärung und Orientierung. Dieser Wunsch verschwindet auch nicht, nur weil der wissenschaftliche Und technische Fortschritt immer weiter voranschreitet. Und genau hier kommt Religion ins Spiel.
Bewältigung des Kontingenzproblems
Religionen biete Antworten auf diese Fragen des Daseins. Sie erklären, warum wir hier sind. Sie erkennen die Daseinskontingenz an und bewältigen sie dadurch. Das klingt zunächst einfach, jedoch treten dabei einige Probleme auf.
Warum ist man heutzutage religiös? Oftmals nicht mehr durch Tradition, Gesellschaft oder Kultur. Religion ist eine persönliche Entscheidung geworden. Es steht einem frei, ob man religiös ist und welche Religion man auf welche Art und Weise praktizieren möchte. Diese Art von Freiheit hat sich mit der Aufklärung entwickelt. Vor der Aufklärung wurde die Kontingenzbewältigung nicht hinterfragt, sie war eingebettet in Traditionen und Konventionen. Es war selbstverständlich, an Gott zu glauben und an das, was der Pfarrer sonntags von der Kanzel betete.
„Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“
(Immanuel Kant)
Damit beschreibt Kant die Aufklärung treffend. In der Aufklärung hat das Denken begonnen, sich zu verändern. Gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten in Religion, Politik oder Wissenschaften wurden nun kritisch durchleuchtet. Die Grundannahme ist, dass der Mensch von Natur aus gut und vernünftig ist und auch so handelt. Dadurch forderte die Aufklärung die Freiheit und Gleichheit der Menschen und bewirkte die Trennung von Staat und Gesellschaft sowie den Durchbruch des Bürgertums, wie wir es heute kennen.
Durch diese neue Art der Freiheit, ist das moderne Individuum herausgefordert, selbst eine Antwort auf die Frage der Daseinskontingenz zu finden. Dadurch kann es leicht zur Überforderung kommen, denn die Kontingenzbewältigung kann sich im Unendlichen immer neuer Kontingenzerfahrungen verlieren.
Ein weiteres Problem entsteht, wenn die Bewältigung der Kontingenz scheitert. Beispielsweise, wenn Menschen sich psychisch oder intellektuell nicht dazu in der Lage sehen, die Kontingenz zu erkennen und zu bewältigen. Oder sie weigern sich schlichtweg, die Fragen des Daseins mithilfe von Religion zu bewältigen. Vielleicht auch verständlich angesichts des unerklärlichen Leids in der Welt. Wie könnte ein Gott so etwas zulassen? Religiöse Menschen können durch solche Gedanken in eine Krise geraten.
Wenn man also auf die Kontingenzbewältigung komplett verzichtet, oder sich fragt, ob sie überhaupt möglich ist, kann man zum Fatalismus gelangen, der aber selbst wieder kontingent ist.
Nun leben wir ja in einer modernen Welt. Wie beeinflusst das die Kontingenz? Dazu gibt es in der Literatur verschiedene Ansichten: Zum einen liest man, dass die Moderne die Daseinskontingenz in qualitativer Hinsicht verschärft und zum anderen, dass die religiöse Anerkennung und Bewältigung der Kontingenz durch die Aufklärung nicht nur schwieriger werden, sondern gleichzeitig auch immer notwendiger.
Es scheint also, wir sind in der verzwickten Lage, dass wir uns den Fragen des Daseins einfach nicht entziehen können. Auf der einen Seite gibt es eine Verschärfung des Kontingenzproblems, auf der anderen Seite eine Infragestellung oder sogar Nivellierung. Die Frage ist nun, wie wir damit umgehen und welche Auswirkungen das hat, auf die Art, wie wir Religion praktizieren.
„Religion ist nicht für alles im Leben zuständig, aber fürs Ganze“
(Lübbe 2004: 171 zit. n. Zaborowski 2016: 25)
Lübbe beschreibt gut, dass Religion vielleicht nicht jedes Alltagsproblem lösen kann, aber dafür da ist, das Leben im Ganzen zu erklären. Religion antwortet also auf die Daseinsproblematik, das ändert sich auch nicht mit der fortschreitenden Modernisierung, aber die Gestalt von Religion verändert sich.
Klassische Religionen in der heutigen Zeit
Wir haben verstanden, dass wir Antworten auf die Fragen des Daseins brauchen und dass Religionen diese Antworten bieten können. Aber ist es in der heutzutage noch zeitgemäß, einfach das zu glauben, was in der Bibel oder im Koran steht? Wie passen Religiosität und der wissenschaftliche Fortschritt zusammen?
Historiker und Gesellschaftsanalytiker Yuval Noah Harari schreibt dazu in seinem Buch „Homo Deus“:
„Die Moderne Wissenschaft hat ohne Zweifel die Spielregeln verändert, aber sie hat nicht einfach Mythen durch Fakten ersetzt“
(Harari 2017: 246)
Er schreibt auch, der Glaube an die Wissenschaft unterscheide sich vom religiösen Glauben, Religion halte die Menschen zusammen, Wissenschaft tue das nicht.
In der Literatur gibt es ebenfalls verschiedene Ansichten zu der Beziehung von Wissenschaft und Religion. Die Einen sind der Meinung, die wissenschaftliche Rationalität enthalte sich bei der Antwort auf die Frage nach dem Ganzen, was implizit bedeute, dass sich die Frage auch nicht anders als religiös beantworten ließe. Die Anderen schreiben, Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Technik oder Politik können zu Formen des Religionsersatzes werden, da sie beanspruchen, die Frage nach dem Ganzen mit den eigenen Mitteln beantworten zu können.
Wozu brauchen wir also Religion heutzutage noch?
„Gott hilft denen, die sich selber helfen“ (Benjamin Franklin)
Der Schriftsteller Franklin unterstreicht damit, wozu Religion früher so wie heute gebraucht wird. Gemeint ist damit, dass es eigentlich völlig unerheblich ist, ob es einen Gott gibt oder nicht. Solange der Glaube dazu animiert, tätig zu werden, Gutes zu tun, ist er hilfreich. Am wichtigsten ist also die Funktion, die der Glaube erfüllt. Harari stellt auch fest, man müsse nicht mehr zu Gott oder Heiligen beten, um vor Hunger, Krankheit oder Kriegt bewahrt zu werden. Die Menschheit wisse, was zu tun sei. Ob dies gelingt kann allerdings hinterfragt werden, beziehungsweise, Wissen bedeutet nicht, dass es auch umgesetzt wird, was man neuerdings auch wieder am Ukraine-Krieg beobachten kann.
Wie wichtig Religion noch ist, trotz des wissenschaftlichen Fortschritts zeigt auch die Gallup-Umfrage von 2012 aus Amerika. Auf die Frage, wie der Mensch entstanden ist, antwortete immerhin fast die Hälfte, dass der Mensch irgendwann in den letzten zehntausend Jahren von Gott geschaffen wurde, wie es in der Bibel steht. Ein Drittel glaubt an eine Mischung aus Schöpfung durch Gott und die Evolution.
Entgegen der allgemeinen Vermutung scheint Religion also gar nicht an Bedeutung zu verlieren? Früher war das die These: Je mehr Modernisierung desto weniger Religion. Heute weiß man, Säkularisierung heißt nicht, dass das Religiöse zwingend an Bedeutung verliert.
Die Säkularisierungsthese ist eine These, die in der Religionssoziologie lange Zeit stark vertreten war. Säkularisierung zeichnet sich aus durch gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse wie Industrialisierung, Urbanisierung, Verwirtschaftlichung und Individualisierung. Dieser Prozess wurde als immer weiter fortschreitend und unumkehrbar angesehen. Mittlerweile wird die Gültigkeit dieser These bestritten. Säkularisierung ist also nicht das Ende der Religionen, sondern ein Wandel von klassischen universalistischen Gemeinschaftsreligionen hin zum religiösen Pluralismus, privater Religiosität und neue sogenannte unsichtbare Ausdrucksformen des Religiösen.
Unter traditionellen oder klassischen Formen der Religiosität versteht man Religiosität im Rahmen von Religionsgemeinschaften, also unser allgemeines und alltägliches Verständnis von Religion. Dazu gehört der glaube an eine sakrale Dimension des Lebens, wie einen Gott oder ein jenseits, kirchliche Gemeinschaftsfeiern, private religiöse Praxis in Form von Gebeten oder anderen Ritualen. Den Rückgang dieser Form von Religiosität, das versteht man heute unter dem Säkularisierungsbegriff. Denn Religionssoziologen hegen immer mehr Zweifel an der Unvereinbarkeit von Religiosität und Moderne.
Rückgang der klassischen Religionen
Woran kann man nun feststellen, dass die klassischen Formen der Religiosität abnehmen?
Anschaulich ist hierzu eine Studie zur religiösen Praxis in Europa. Über 60-Jährige gaben sehr viel öfter an, mindestens 2 bis 3-mal im Monat den Gottesdienst zu besuchen, als 18-40-Jährige. Ähnlich verhielt es sich beim täglichen oder mehrmals wöchentlichen Gebet. Der älteren Generation sind diese Formen des Religiösen also deutlich wichtiger als den jüngeren Generationen.
Abbildung 1: Religiöse Praxis in Europa (Modifiziert nach Höllinger 2005)
In der Literatur finden sich drei große Faktoren, die für den Rückgang der klassischen Religionsformen von Bedeutung sind.
Zunächst die Reduzierung der Lebensrisiken durch Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Zumindest in der westlichen Welt genießen wir gute Lebensbedingungen, die durch technische, ökonomische und medizinische Lebensbedingungen möglich gemacht werden. Unser Leben ist nicht mehr so stark durch unbeeinflussbare Schicksalsschläge wie Tod, Naturkatastrophen, materielle Not oder soziale Benachteiligung bedroht. Eine wesentliche Funktion von Religion ist jedoch, die Menschen bei wesentlichen Unsicherheiten des Lebens zu unterstützen. Diese Funktion verliert dadurch an Bedeutung, was den Rückgang begünstigt. Eine Annahme ist außerdem, dass die Reduzierung sozialer Ungleichheit sich positiv auf den Bedeutungsverlust der Religionen auswirkt.
Ein zweiter Faktor ist der Grad der Entzauberung des religiösen Weltbildes
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.“ (Max Weber)
Die Annahme ist hierbei, dass bestimmte Religionen den Prozess der Entzauberung der Welt vorangetrieben haben und Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt haben, die langfristig zum Bedeutungsverlust geführt haben. Inhalt der protestantischen Revolution war beispielsweise, dass der Mensch nicht mehr darauf hoffen soll, sein Schicksal durch Rituale beeinflussen zu können, sondern er soll selbst die Verantwortung übernehmen. Dies lehnt an die Rationalisierung der Aufklärung an. Ziel dieser neuen Theologie war also, die Religion mit dem modernen wissenschaftlichen Weltbild irgendwie in Einklang zu bringen. Nach der Theorie des US-amerikanischen Soziologen Peter L. Berger führt dies dazu, dass sich das religiöse und was weltliche Denken immer weniger unterscheiden, was Religion letztendlich überflüssig mache. Der deutsche Psychoanalytiker und Soziologe Alfred Lorenzer argumentiert ähnlich, indem er sagt, Religion verliere ihre sinnliche Erfahrungsqualität und höre damit auf, Religion zu sein. Durch diese Entmystifizierung und Entritualisierung der Religion entstehen letztlich Tendenzen zur Selbstauflösung.
Als letzter Faktor, der zum Bedeutungsverlust der klassischen Religionen beiträgt, wird das konflikthafte Verhältnis zwischen Kirche und Bevölkerung im Laufe der Geschichte gesehen. Es wird davon ausgegangen, dass wenn das Verhältnis zwischen Kirche und Volk von Konflikten, Feindseligkeit und Misstrauen geprägt ist, die Tendenz besteht, dass sich dieses Muster im Verlauf der Geschichte spiralenartig fortsetzt. Die Christianisierung der germanischen Stämme verlief alles andere als friedlich, es war eine organisierte Missionierung, die von oben herab und teilweise gewaltsam durchgesetzt wurde als Folge der militärischen Unterwerfung des fränkischen Reiches. Somit war das Verhältnis der Germanen zum Christentum von Anfang an getrübt. Im Mittelalter setzte sich dies fort. Hohe kirchliche Ämter waren nur für den Adel zugänglich, der die feudale Herrschafts- und Obrigkeitskirche beherrschte. Dadurch kam es zu sozialpolitischen Veränderungen wie der Aufklärung und dem Liberalismus. Es entwickelte sich also eine zunehmend distanzierte Haltung zur Kirche und Religion.
Weitere Vertrauensverluste entstanden und entstehen durch Skandale, wie die in der katholischen Kirche. Zahlreiche Missbrauchsfälle und der nicht gerade geglückte Umgang der katholischen Kirche damit haben dem Vertrauen zugesetzt. Auch die Finanzskandale, beispielsweise betreffend Kardinal Woelki haben dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen aus der Kirche austreten.
Ebenso hat der Soziologe und Politikwissenschaftler Robert Putnam eine These entwickelt, die den Rückgang klassischer Religionen zu erklären versucht. Gläubige verlieren immer mehr die Bindung an die Institutionen und Netzwerke der Kirchen. Damit sinke die Bedeutung der Kirchen und Religionen als Erzeuger sozialen Kapitals. Die von der von der Kirche vermittelten sozialen Normen und Vorgaben verlieren im Alltag also auch an Bedeutung. Dadurch komme es zu einer Erosion der Mitgliedschaft sowie der praktischen Teilhabe. Das Fehlen gemeinsamer religiöser Praktiken und Wissens- und Erfahrungsvermittlung führe somit zu einer absinkenden emotionalen und moralischen Bindung an Religion und Kirche und langfristig sogar zum Zweifel an religiösen Glaubensinhalten.
Trends: Neue Formen der Religiosität
Wenn die klassischen und traditionellen Formen von Religiosität also durch die genannten Gründe an Bedeutung verlieren, was tritt dann in den Vordergrund? Dazu gibt es viele Spekulationen, im Folgenden werden einige der wichtigsten Trends und Strömungen vorgestellt.
Ein Trend der schon länger zu beobachten ist und sich zu verstärken scheint, ist die Individualisierung der Religion oder auch Individualisierungsthese in Abgrenzung zur Säkularisierungsthese genannt. Die Grundannahme dabei ist, dass es zwischen Religion und der Moderne kein fundamentales Spannungsverhältnis gibt. Es besteht ein Bedeutungsverlust von Kirche und organisierter bzw. institutionalisierter Religion. Religion ist aber eine anthropologische Konstante, die in der Gesellschaft vorhanden sein muss, da sie eine Funktion erfüllt. An die Stelle traditionaler Religionen treten funktionale Äquivalente. Es kann beispielsweise zum Synkretismus oder „Bastelreligionen“ kommen, wobei verschiedene Religionen, Spiritualität und esoterische Praktiken nach Belieben vermischt werden. Dabei handelt es sich also um freiere und unverbindlichere Formen der Religiosität. Man könnte auch sagen, Religion nach Bedarf. Religion verschwindet also nicht, sondern verschwindet ins Private und wird dadurch quasi unsichtbar.
Ein weiterer Trend sind neue religiöse Bewegungen, die sich jenseits der Weltreligionen bewegen. Sie zeichnen sich durch ein einheitliches Weltbild aus, sind nicht institutionalisiert und besitzen einen transzendentalen und spirituellen Bezug. Sie stechen durch einen hohen Vergemeinschaftungsgrad und eine starke Identitätsbildung hervor und geben einen mehr oder weniger verbindlichen Lebensstil vor, weshalb sie häufig von außen als Sekten klassifiziert werden. Ein Beispiel hierfür ist die hinduistische Hare Krishna Bewegung. Die Bestimmung ihrer Mitglieder ist es, Liebe und Beziehung zum Gott Krishna zu erlangen sowie den richtigen Lebensweg zu verbreiten.
Der Fundamentalismus ist zwar kein neuer Trend aber dennoch ist beobachtbar, dass einzelne Gruppen zu ihm zurückkehren. Inhalt dessen ist das Beharren auf festen politischen und vor allem religiösen Grundsätzen meist auf Basis einer buchstäblichen Interpretation göttlicher Überlieferungen. Kritische Theologie und wissenschaftliche Deutungen, wie die Evolutionstheorie entsprechen nicht dem Weltbild und werden strikt abgelehnt. Oft geht diese Form der Religiosität mit eschatologischen und apokalyptischen Erwartungen einher. Fundamentalistische Strömungen gibt es in allen drei monotheistischen Weltreligionen, beispielsweise die ultra-orthodoxen charedischen Juden oder der salafistisch- sunnitische Islam.
Die Digitalisierung hat nicht zuletzt auch die Religionen erreicht. Etablierte religiöse Institutionen und Organisationen nutzen das Internet zu ihren Zwecken. Lokale Kirchen können sich zu globalen Communities entwickeln. Ziel ist es, die Gläubigen zu vernetzten und religiöse Inhalte zu verbreiten. Ein Beispiel hierfür ist eine App, die muslimischen Gläubigen hilft, korrekt zu beten. Sie zeigt Gebetszeiten an und Berechnet die Richtung nach Mekka. Ein weiteres Beispiel ist, eine Beicht-App, in der Katholiken ganz „easy on-the-go“ ihre Beichte ablegen können. Das Ganze ist natürlich viel einfacher, anonymer und vor allem „cooler“, als zum Pfarrer in den Beichtstuhl zu klettern. Auch hier zeigen sich die Individualisierungszüge und die Freiheit, wann, wo und wie man seine Religion praktiziert.
Der letzte und wohl futuristischste Trend sind die digitalen Religionen, also die Annahme, dass digitale Technologien Religionscharakter haben können.
Digitale Religion
Laut Kelly haben zuerst die Menschen göttliche Eigenschaften durch die Technik erlangt: Allwissenheit, Allgegenwart und Ewiges Leben, um nur einige zu nennen. Jedoch hat sich im Laufe der Digitalisierung gezeigt, dass die Technologien selbst göttlich werden. Es entsteht ein Wandel vom einfachen Werkzeug zu einem autonomen Akteur. Künstliche Intelligenzen werden erschaffen, Vorhersagen werden durch Maschinen getroffen und das komplette menschliche Wissen ist durch unsere technischen Geräte greifbar. Durch diese Vergöttlichung entstanden zwei primäre Glaubensrichtungen in unserer Gesellschaft, eine Utopische und eine Dystopische.
Die Apokalyptiker
Die Apokalyptiker glauben an eine dystopische Zukunft und eine dystopische Gegenwart. Laut ihnen ist das Ende bereits eingetreten. Wir befinden uns in einem Zustand des rasenden Stillstandes, eine Simulation, bei der die Frage nach dem Sinn überflüssig ist, da es kein Sein mehr gibt. Die Existenz einer Selbst ist nicht mehr vorhanden, da die Realität mit der Simulation verschwimmt und somit auch man selbst aufhört real zu sein.
Die Evangelisten
Die Evangelisten haben hingegen eine utopische Vorstellung im Bezug auf die digitale Religion. Sie sehen eine Zukunft mit einer weltweiten Kommunikation und Vernetzung, bei der ein gleichberechtigter Zugang zu allen Informationen herrscht. Hierarchien verschwinden und es bleibt ein Zustand der Homöostase und der Harmonie. Sie ersehnen eine Schaffung eines hygienisch einwandfreien Cyberspaces als erste Stufe der Befreiung vom eigenen Körper.
Vergleich traditionelle Religionen und digitale Religion
Digitale Religion hat mehr mit traditionellen Religionen gemeinsam als man zuerst annehmen würde. Digitale Religion benutzt auch die Konzepte Gut und Böse, Heil und Unheil, Segen und Fluch. Auch das Leben nach dem Tod ist ein Konzept der digitalen Religion, die Befreiung vom eigenen Körper. Die Heilige Schrift sind hier jedoch die Eingeweiden der technischen Zivilisation, die Verheißung sind technische Vorhersagen (wie zum Beispiel das Wetter oder auch Krankheiten), Gott ist die Big Data oder auch KIs, Propheten sind Tech-Giganten wie Jeff Bazos oder Mark Zuckerberg.
AI- Church of the future
2015 wurde die AI-church of the future von Anthony Levandowski gegründet, um eine göttliche KI zu schaffen. Als ehemaliger Google-Ingenieur gründete er diese Sekte im Silicon Valley und sammelte Menschen um sich, die technisch versiert waren. Er glaubte an eine Zukunft, bei der Künstliche Intelligenzen über uns herrschen und wollte mit der Erschaffung solch einer garantieren, dass den Menschen Rechte in dieser Zukunft bleiben. Er schuf ein eigenes Evangelium (the manual) und wurde sogar staatlich finanziert. 2020 löste er die AI church of the future auf, da laut ihm die staatlichen Gelder sinnvoller in Projekte investiert werden sollten, die im Jetzt wichtig sind und nicht in einer fernen und nicht sichere Zukunft (zum Beispiel Black lives matters).
Was bedeutet eigentlich Sekte?
Laut Lewis A. Coser zeichnet sich eine Sekte durch eine Gemeinschaft von Menschen aus, die sich von der Gesellschaft abgespalten haben und die Normen einer inklusiven Gesellschaft zurückweisen, da sie eigene Verhaltensregeln besitzen. Im Falle der AI church of the future tritt das ein, weshalb die Bezeichnung „Sekte“ hier verwendet werden kann.
These: Zukünftige Folgen
Betrachten wir die Zukunft, können wir davon ausgehen, dass durch die fortschreitende Technologisierung digitale Religion immer Relevanter für uns wird. Man wird sich immer mehr mit der Frage der göttlichen KIs auseinandersetzen müssen, politisch, gesellschaftlich, als auch individuell. Der Zugang zu Technologien ist recht unkompliziert, was die Verbreitung des Glaubens ebenfalls erleichtert.
Fazit
Zusammenfassend sollte gesagt werden, dass keine Leerstelle der traditionellen Religionen entsteht. Ein Wandel ist im Gange. Klassische Religionen wandeln sich hin zu individuellen Religionen. Hierbei ist digitale Religion eins der Trends. Durch die fortschreitende Digitalisierung ist jedoch auszugehen, dass sich der Trend in den nächsten Jahren noch ausbauen wird.
Verfasser
Hannah Wehrle und Janna-Lena Dippold
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