Nah am Wasser
Das Haus der Macht
Ein Besuch in Budapest
Als eingesessener Mitteleuropäer braucht man nicht lange zu fahren, um einer der attraktivsten Städte des Kontinents einen Besuch abzustatten: Eine Stadt, durch die 6800 Kubikmeter Wasser pro Sekunde fließt, kann nur feucht-fröhlich sein. Die ungarische Hauptstadt ist eine der mächtigsten Metropolen entlang der Donau. Budapest liegt im Herzen Europas - und in dessen Magen. So prachtvoll die ungarische Machtzentrale, das extravagante Parlamentsgebäude auch außen herum ist, was innen drinnen passiert, steht auf einem anderen Blatt. Politisch tendiert das Land derzeit weit nach rechts, geografisch liegt es mitten drin - Paris oder Moskau ist es gleich weit entfernt. Zu beinahe jeder Tages- und Nachtzeit wehen seufzend-mollige Melodien durch die Hauptstadtgassen – Komponisten von Weltgeltung erblickten hier, in Ungarn, das Licht der Welt. Ob Abraham, Bartok oder Kalman, Ligetti, Liszt oder Lehar, das Land glänzender Operettenmelodien und dramatischen, sinfonischen Werke gilt seit jeher als Musen-Perle am Donaustrom. Europäische (Kultur-) Geschichte, (Macht-) Politik und (globale) Wirtschaft findet und fand hier ebenso statt, wie die Lust an der Gaudee, wie der artverwandte Wiener sagen würde. In Budapest lebt man eben gut - und gerne.
Kitsch, Klumpert und Kokolores
Links und rechts des Donaustromes liegen die schönsten Bauwerke aufgereiht wie die Jou-Jous eines Bettelarmbandes. Der Fluss trennt Rechts von Links, Buda von Pest. Gemeint ist der hügelige Stadtteil, und das linke, flachbrüstige Ufer. Verbunden werden sie von fünf mächtigen Kettengliedern - der Margaretenbrücke und der Petöfibrücke, dazwischen: Die Ketten-, die Elisabeth- und die Freiheitsbrücke. Auf dem Burgberg liegt das glänzende Diadem: Das Schloss, in dem die Nationalgalerie untergebracht ist, die Nationalbibliothek, das Historische Museum, das Sándor-Palais mit dem Sitz des Staatspräsidenten (aktuell Frau Novák), und die Matthiaskirche. Hier wurden der Franzl Unser, gemeinsam mit seiner Sisi zum Königspaar gekrönt – und der Liszt-Ferenc steuerte die Musik bei, weswegen auch laute „Ferenc-Rufe“ erschallten, als das Paar die Kirche verließ. Unüberhörbar aber galten sie, wenn man der Überlieferung glauben darf, weniger dem jungen, absolutistischen König, als dem umtriebigen Herrn Compositeur.
Fischerbastei im Burgviertel von Buda
Mit der Standseilbahn geht’s hinunter in Richtung Ufer und von dort hinüber nach Pest, wo der (kulturelle) Teufel los ist: Von der Staatsoper zum Operettenhaus, vom Museum der bildenden Künste zur Großen Synagoge, von der Kunsthalle zur Markthalle, vom Stadtwäldchen über den Heldenplatz und dem prächtigen Andrássy út-Boulevard bis zur wirbeligen Geschäftsstraße Váci ùt. Überall wird getanzt, gefeiert, gelebt und – gebadet…
Der Heldenplatz
Széchenyi Bad – Thermal und Party, der Spaßkracher der Hauptstadt!
Gellért Bad – Budas Antwort auf die Pester Herausforderung: Neben dem Grand Hotel am Fuße des Gellért Berges steht das Freiband und schlägt Wellen!
Lukács Bad – eines der ältesten Bäder der Stadt: Seit dem 12. Jhdt. schwammen die Ritter des Johanniterordens im Glück!
Rudas Bad – Die „Wellness-Welt der Saunas“. Baden am Dach, Stadtrundblick inklusive!
Király Thermalbad – Uraltes türkisches Dampfbad unter der Kuppel!
Große Synagoge Aussen und Innen
Das Wasser
Budapest ist die einzige Hauptstadt der Welt, die über natürliche Thermalquellen verfügt. Aus 125 Thermen, man glaubt es kaum, sprudeln pro Tag 70 Millionen Liter Thermalwasser, das reicht, um die Bevölkerung gesund zu machen. Auf bis zu 58 Grad Celsius kann sich das Wasser hier erwärmen. Besonders im Széchenyi-Bad, im schönen Stadtwäldchen, tummeln sich die Massen - Tag für Tag, Stunde um Stunde. Kaum wo kann man so schön baden wie hier. Schon das Äußere kann sich sehen lassen. Der schlossartige Badetempel ist europaweit der größte und prächtigste seiner Gattung. Die ersten Bohrungen begannen 1868 und endeten in einer Tiefe von 970 Metern. Geologen hatten einen Artesischen Brunnen unterhalb des Pester Stadtteiles vermutet. Sie sollten Recht behalten. Man musste dem Wasser nur Platz schaffen. Wenig später schon durften die Pester den Terminus ‚Heilbad‘ für sich beanspruchen. Bald schon genügte das Areal nicht mehr dem Ansturm der Badewütigen. Ein neues Freibad wurde eröffnet. Nun betrug die Wasserfläche der drei großen Becken bereits über zweitausend Quadratmeter, die Baderatten tummelten sich Schnauze an Schnauze. Neuerlich wurde gebohrt, und als 1938 die Welt in Grund und Boden versank, hatte man hier erstmal andere Sorgen. In einer Tiefe von über zwölfhundert Meter stieß man wieder auf Wasser. Sechstausend Kubikmeter heißes Thermalwasser schoss täglich aus der Erde, so viel, dass man das Gebäude gleich mitheizen konnte. Seit damals ist das Széchenyi-Bad der Mittelpunkt der Budapester Bevölkerung. Arm oder Reich, Jung oder Alt, Schön oder Schiach, das gesellschaftliche Leben spielt sich hier und in weiteren zwanzig Thermalbädern der Hauptstadt ab.
Im Széchenyi-Bad trifft sich die Hautvolée
Im Széchenyi allerdings kann man weit mehr als bloß baden: Spa, Schach und jede Menge Bespaßung stehen am Menüplan. Hier gibt‘s nichts, was es nicht gibt. Bedingung: Badelatschen (außerhalb der Becken), Badehaube (innerhalb der Becken) und Badekleidung (sowohl als auch). Und wenn einem danach ist, kann man sogar in Bier planschen: Im „Bier Spa“ ist das 36 Grad warme Thermalwasser mit Malz, Hopfen und Hefe angereichert - dazu zapft man die, am Rand der Becken stehenden Holzfässer an, und kostet so viele verschiedene Biere wie man mag. Und wem immer noch nach Flüssigem ist, der bleibt an Samstagabenden einfach im Nassen stehen. Von 22h30 bis 06h00 gibt‘s „Sparty“ - so nennt sich der weltweit abgehobendste Disco-Kracher, DJs, Lasershow und jede Menge Attraktionen inklusive. Und da sage noch einer, die Pester seien nicht feucht-fröhlich!
Elegant wie ein Opernfoyer - Das Széchenyi-Bad
House of Houdini – Zaubertheater zum Schauen und Staunen!
Labyrinth – Herrlich abgruseln in den Geheimgängen, tief unterhalb des Schlossdistriktes!
Felsenkrankenhaus und Atombunker-Museum – Zeitgeschichte zum Fürchten!
NOVESTA - Jan Antonín Baa‘s unzerstörbares Schuhwerk aus den 30ern, gefertigt in Partizánske, verkauft bis heute in der Grösslingova 4!
Fővárosi Nagycirkusz – Klassischer Nummernzirkus im winterfesten Zeltbau für Junge und Junggebliebene!
Zentrale Markthalle – Paprika einkaufen, kiloweise!
Altes Judenviertel – Frommes Beten, koscher essen!
Hungarian Halloween
Hundertausende Genusssüchtige ziehen von Restaurant zu Kaffeehaus, von Tanztempel zu Studentenkneipe, von Jazz Klub zu Ruinenbar. Budapest ist Nacht für Nacht der Mittelpunkt der Partywelt. Gut so. Touristen wie Einheimische fühlen sich im selben Stück „Der Untergang der Titanic“ - kaum dass man einen Schritt aus welchem Innenstadthotel auch immer wagt. Fortgerissen wird man vom nicht versiegenden Strom der Leiber, die um die Häuser ziehen, immer auf der Suche nach Beute und Futter. Budapest ist am ehesten mit dem Big Apple, Berlin oder Rom zur Zeit der Papstwahl zu vergleichen. Kaum sonst wo wird ähnlich gefeiert, getanzt und gegrölt wie hier. Wenn man in Wien nächtens die Gehsteige hochklappt, beginnt zweihundertfünfzig Kilometer ostwärts die Partymeile. Der Zufall wollte es, dass ich zur Zeit der Untoten und Halbverwesten durch die Straßen Budapests gespült wurde. Halloween! Eine schrillere Zeit ist nicht denkbar. Fratzen, Freaks und Freddy Krueger. Auf den Gassen wird gerasselt, gekeucht, geschrien, geröchelt. Ketten klirren, Böller krachen, Gehängte baumeln (aus den Fenstern). Wo bin ich? Ich möchte in eines der angesagten Ruinen-Vierteln der Judenstadt. Gefehlt. Ich komme nicht mal in deren Nähe. In den Katakomben ist heute Stoßverkehr.
Ruinenlokal im Judenviertel
One Way to Hell. Ich versuche einen Abstecher, werde von der nächsten Flutwelle erfasst und durchs nächste, übernächste, drittnächste Durchhaus gespült. Ich kann dem Druck des Massenwahns nicht standhalten und klammere mich an einen Laternenpfahl. Mit Gewalt stemme ich mich gegen das Pressing entgegenströmenden Horrors. Sind die Ungarn völlig verrückt geworden? Das Gewühl an Skeletten, Teufeln und schreienden Mäulern wird immer beängstigender. Eigentlich habe ich Hunger, aber da ich nicht zum dritten Mal hintereinander Halászlé (Fischsuppe), Pörkölt (Gulasch) oder Paprikás Csirke (Paprikahuhn) vertilgen wollte, stand mir der Sinn nach Alternativem. Drittens kommt es anders, erstens als man denkt. Also rette ich mich in die Warteschlangen unorthodoxer Teenie-Speisehäuser: Burger, Fritten, Cola. Anstehen. Nein, weg! Dann schon eher Barbeque. Doch nicht. Kaffee und Kuchen? Schon gar nicht, nicht am Abend. Also trotte ich durch Hinterhöfe, schummrige Gässchen, überquere abgeschiedene Plätze, immer auf der Flucht vor Halloween-Partytiger*innen. Hunger.
Zum Angedenken
Doch Töltött Káposzta (Kohlroulade)? Mir wäre bereits alles recht. Ich sehe mich schon Im Rinnstein enden, verhungern und verdursten. Alles ist ausreserviert. Kein Platz für Bedürftige. In der Király ut. werde ich fündig. Der tatsächlich einzig freie Platz liegt im ersten Stock eines kleinen, neonbeleuchteten Hinterhoflokales, im letzten Stübchen, kurz vor den Toiletten. Ich bestelle. Ein netter Thailänder zwinkert mir zu. Als was ich denn gehe, will er wissen. Er meint, er kennt sich nicht gut aus in Sachen europäischer Horror, und als ihm sage, ich bin ohne Maske unterwegs, das ist mein Gesicht, verzieht er sich augenblicklich in die Küche. Kurze Zeit später kommt er mit einer original ungarischen Rezeptur zurück. Ich habe kaum wo je besser gegessen. Man muss sich dem Zufall anvertrauen, dem Schicksal überlassen und das Landestypische probieren. In dem Fall ein Glasnudelsüppchen mit Wok-Gemüse, ein paar listig blinzelnden Tintenfischen und einer Handvoll Muscheln. Halászlé: out, Pho: in. Budapest ist nah am Wasser gebaut.
Zwischen Alt und neu - Die St. Stephansbasilika
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Vorauswahl: Ernst Jandl
Gedichte unter dem Cut
liegen, bei dir
ich liege bei dir. deine arme
halten mich. deine arme
halten mehr als ich bin.
deine arme halten, was ich bin
wenn ich bei dir liege und
deine arme mich halten.
Markierung einer Wende
1944 1945
krieg krieg
krieg krieg
krieg krieg
krieg krieg
krieg mai
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
wien: heldenplatz
der glanze heldenplatz zirka
versaggerte in maschenhaftem männchenmeere
drunter auch frauen die ans maskelknie
zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick
und brüllzten wesentlich.
verwogener stirnscheitelunterschwang
nach nöten nördlich, kechelte
mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme
hinsensend sämmertliche eigenwäscher.
pirsch!
döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz
mit hünig sprenkem stimmstummel.
balzerig würmelte es im männechensee
und den weibern ward so pfingstig ums heil
zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte.
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