Die Hand meines Vaters
Woran ich geglaubt hatte: Dunkler Himmel, blauer Schnee, tiefer Wald, der sich lichtet. Sohlen, die durch die Kruste brechen. Nicht mehr nur Sohlen – dass es Pfoten sind, hört man nicht sofort, kann man nicht wissen. Woran er gerne geglaubt hätte. Dann wusste er es besser. Zischendes Fett über dem Lagerfeuer, gelber Schimmer über blauem Schnee, Pfoten, die durch die Kruste brechen, einer nimmt einen Holzscheit, einer die rußige Zange. Knurren, Zähnefletschen, Pfoten auf der Brust, Krallen, die den Mantel aufreißen, so schwer, wie viel schwerer als ein einzelner Mensch, Reißen und Knacken und auf dem blauen Schnee schwarzes Blut, nicht nur das eigene, das Fell, wie fühlt sich das Fell an, ganz rau oder weich und dicht für den tiefen Winter, ein Schlag, der nicht einen selbst trifft, Lagerfeuer und Holzscheit, das Fell, wie riecht es, wenn es brennt. Die Hand – Reste davon – im blauen Schnee – unter der Kruste weich wie Daunen – es ist kalt, es hilft.
Woran ich glaube: Ich, vielleicht fünf, nicht älter als sieben, klein genug für Schöße und Märchen. Ich spanne meine Schenkel an auf dem Schoß, auf dem ich sitze, ich hatte das nie gemocht, die Hand, die nach meinen dünnen nackten Armen greift, hat einen Daumen und sonst nur sauber verwachsene Stümpfe, als wäre da nie etwas gewesen. Greifen, festhalten kann sie noch immer, schmerzhaft sogar. Willst du wissen, wie mir das passiert ist, Maschka?
Ich weiß nicht mehr, ob mein Vater Links- oder Rechtshänder war. Ich spule die Erinnerung noch einmal zurück, wie einen Film, den es wirklich gibt, wie Beweismaterial, Nahaufnahme und Pause. Woran ich glaube: dass es die rechte war.
Immer wieder vergesse ich, meine Mutter danach zu fragen. Ob sie es selbst noch weiß? Sie trägt den Namen ihres ersten Ehemannes. Ich trage den Namen meines Vaters. Kaum vorstellbar, welcher dieser Männer ihr weniger bedeutet. Willst du wissen, wie es passiert ist, Maschka?
Woran ich glaubte: Zu groß und zu alt für Schöße und Märchen, ein linkischer Teenager am Erwachsenentisch, der sich mit Kindern nicht mehr unterhalten kann. Ich schaue Filme von Tarkovsky, man schaut mich an wie ein dressiertes Tier. Für Erwachsene: Anekdoten, keine Märchen. Wie Viktor sich damals mit der Axt die Finger abgesäbelt hat, blau, wie er war. Der Bär? Welcher Bär? Im Winter auch noch? Daran hast du geglaubt, Maschka?
Heute erzähle ich das als Anekdote – über mich. Woran ich damals glaubte. Wenn es eine Anekdote war, kein Märchen, der Alkohol, die Axt, dann muss es ja stimmen. Wenn ich es erzähle, Freunden, Bekannten, Dates, dann staut man, und lacht, wie es sich gehört bei Anekdoten, und das reicht.
Er hatte es mir nicht selbst erzählt. Ich hatte ihn nicht gefragt – oder? Kein Film in meinem Kopf, der das beweisen könnte.
Woran wir nicht glaubten: BAföG-Antrag, Einwohnermeldeamt, Russisches Konsulat, nein, seit dem und dem Jahr kein Kontakt, keine aktuellen Daten, nur letzter bekannter Wohnort. So schnell kann das gehen, so schnell. Letzte E-Mail im Postfach von vor einem Jahr, immerhin.
Ich vergesse nicht, meine Mutter zu fragen, es ist Absicht. Die Mail im Postfach, die Antworten, die ich ihr früher noch diktiert, der Mann, der ihr nichts bedeutet, aber mein Vater ist, warum muss ich das machen, es ist dein Vater. Der Mann, der mir nichts bedeutet. Ich kann das doch nicht alleine schreiben, auf Russisch, kann man als Kind ein Elternteil vernachlässigen? Die Muttersprache? Es ist Absicht.Er hat mir nie gefehlt, das letzte, was mir gefehlt hätte, wäre noch ein Erwachsener gewesen, der mich erziehen will. Ich lasse mir kein Loch ins Herz graben, nur weil es anderen fehlt, ich bleibe, unberührter, glatter weißer Schnee. Woran ich glaube.
Ich vergesse nicht, meine Mutter zu fragen, es ist Absicht. Wozu brauchst du das, was erzählst du da für Sachen, lass mich da raus, ja? Meine Mutter ist eine Funktion in einem literarischen Text, Fiktionalität und Literarizität sind Ergebnisse von einem bestimmten Verhältnis des oder der Lesenden zum Text, ontologische Indifferenz, das alles kann ich Studierenden in Seminaren erklären, aber meiner Mutter? Die nicht mehr nur eine Funktion ist, die will, dass ich sie da rauslasse? Und meinem Vater?
Ist er Links- oder Rechtshänder? Wie sah die Hand wirklich aus, hatte er damals noch einen Daumen, oder doch bloß einen Stumpf, wie sauber waren die Stümpfe verwachsen? Ich grabe mit nackten Fingern ein Loch in den Schnee. Ich durchbreche die Kruste, ich suche die Spuren der Tatzen, die Vodka-Flasche, das Blut. Ich spule einen Film zurück, der nicht einmal eine Erinnerung ist, der erst entsteht, wenn ich ihn schreibe, und was ich versuche zu sehen, brennt seine Umrisse über jede Spur von damals, die mir noch bleibt. Und was, wenn nicht? Was passiert mit Erinnerungen, an die man sich nicht erinnert? Was, wenn es keine gibt? Ist es besser als nichts? Vielleicht fange ich an, daran zu glauben.
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