Sein eigener Tisch war komplett, bis auf den oberen Platz ihm gegenüber, welcher, wie er sich belehren ließ, der Doktor• platz war. Denn die Ärzte, wenn ihre Zeit es irgend erlaubte, beteiligten sich an den gemeinsamen Mahlzeiten und wechsel- ten dabei die Tische: an einem jeden war zu oberst ein solcher Doktorplatz freigehalten. Jetzt war keiner von beiden anwe• send; man sagte, sie seien bei einer Operation. Wieder kam der junge Mann mit dem Schnurrbart herein, senkte einmal das Kinn auf die Brust und setzte sich mit sorgenvoll-verschlosse• ner Miene. Wieder saß die Hellblonde, Magere an ihrem Platze und löffelte Yoghurt, als ob dies ihre einzige Speise wäre. Ne • ben ihr saß diesmal eine kleine, muntere alte Dame, die in rus• sischer Zunge auf den stillen jungen Mann einredete, der sie sorgenvoll anblickte und nicht anders als mit Kopfnicken ant• wortete, wobei er jenes Gesicht machte, als habe er etwas Schlechtschmeckendes im Munde. Ihm gegenüber, an der ande• ren Seite der alten Dame, war ein weiteres junges Mädchen pla- ziert, - hübsch war sie, von blühender Gesichtsfarbe und hoher Brust, mit kastanienbraunem, angenehm wellig geordnetem Haar, runden braunen, kindlichen Augen und einem kleinen Rubin an ihrer schönen Hand. Sie lachte viel und sprach eben• falls Russisch, nur Russisch. Sie hieß Marusja, wie Hans Castorp hörte. Ferner bemerkte er beiläufig, daß Joachim mit strengem Ausdruck die Augen niederschlug, wenn sie lachte und sprach.
Settembrini erschien durch den Seiteneingang und schritt schnurrbartkräuselnd zu seinem Platze, der am Ende des Tisches gelegen war, der schräg vor demjenigen Hans Castorps stand. Seine Tischgenossen brachen in schallendes Lachen aus, als er sich niedersetzte; wahrscheinlich hatte er eine Bosheit gesagt. Auch die Mitglieder des »Vereins Halbe Lunge« erkannte Hans Castorp wieder. Hermine Kleefeld schob mit dummen Augen
10 1
zu ihrem Tische dort drüben vor der einen Verandatür und be• grüßte den wulstlippigen Jüngling, der vorhin so unschicklich seine Jacke emporgerafft hatte. Die elfenbeinfarbene Levi saß neben der fetten und leberfleckigen Iltis unter Unbekannten an dem querstehenden Tische rechts von Hans Castorp.
»Da sind deine Nachbarn«, sagte Joachim leise zu seinem Vetter, indem er sich vorneigte . . . Das Paar ging dicht an Hans Castorp vorbei zu dem letzten Tisch rechts, dem »Schlechten Russentisch« also, wo schon eine Familie mit einem häßlichen Knaben große Haufen Porridge verschlang. Der Mann war schmächtig gebaut und hatte graue und hohle Wangen. Er trug eine braune Lederjoppe und an den Füßen plumpe Filzstiefel mit Spangenverschluß. Seine Ehefrau, ebenfalls klein und zier• lich, in wippendem Federhut, trippelte auf winzigen, hochge- stöckelten Juchtenstiefelchen; eine unsaubere Boa aus Vogel• federn lag um ihren Hals. Hans Castorp betrachtete die beiden mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihm sonst fremd war und die er selbst als brutal empfand; doch war es eben das Brutale daran, das ihm plötzlich ein gewisses Vergnügen verursachte. Seine Augen waren zugleich stumpf und zudringlich. Als in demsel• ben Augenblick die Glastür zur Linken zufiel, schmetternd und klirrend, wie beim ersten Frühstück, zuckte er nicht zusammen wie heute früh, sondern schnitt nur eine träge Grimasse; und als er den Kopf nach jener Seite wenden wollte, fand er, daß ihm dies allzu schwer falle und daß es die Mühe nicht lohne. So kam es, daß er auch diesmal nicht zu der Feststellung gelangte, wer mit der Tür denn so liederlich umgehe.
Die Sache war die, daß das Frühstücksbier, sonst nur von mä• ßig benebelnder Wirkung auf seine Natur, den jungen Mann heute vollständig betäubte und lähmte, - es zeitigte Folgen, als hätte er einen Schlag vor die Stirn bekommen. Seine Lider wa• ren wie Blei so schwer, die Zunge gehorchte dem einfachen Gedanken nicht recht, als er aus Artigkeit mit der Engländerin zu plaudern versuchte; auch nur die Richtung des Blicks zu ver• ändern, erforderte große Selbstüberwindung, und hinzu kam, daß der abscheuliche Gesichtsbrand den gestrigen Grad nun wieder vollauf erreicht hatte: seine Wangen schienen ihm ge• dunsen vor Hitze, er atmete schwer, sein Herz pochte wie ein umwickelter Hammer, und wenn er unter all dem nicht sonder• lich litt, so war es deshalb, weil sein Kopf sich in einem Zustand
befand, als habe er zwei oder drei Atemzüge von Chloroform getan. Daß Dr. Krokowski doch nun beim Frühstück erschien und an seiner Tafel, ihm gegenüber, Platz nahm, bemerkte er nur traumweise, obgleich der Doktor ihn wiederholentlich scharf ins Auge faßte, während er mit den Damen zu seiner Rechten russisch konversierte, - wobei die jungen Mädchen, näm- lich die blühende Marusja sowohl wie auch die magere Yoghurt• esserin, unterwürfig und schamhaft die Augen vor ihm nieder• schlugen. Übrigens hielt Hans Castorp sich redlich, wie sich von selbst versteht, schwieg, da seine Zunge sich widerspenstig zeigte, lieber still und handhabte Messer und Gabel sogar mit beson• derem Anstand. Als sein Vetter ihm zunickte und sich erhob, stand er ebenfalls auf, verneigte sich blind gegen die Tischgenos• sen und ging bestimmten Schrittes hinter Joachim hinaus.
»Wann ist denn wieder Liegekur?« fragte er, als sie das Haus verließen. »Das ist das Beste hier, soviel ich sehe. Ich wollte, ich läge schon wieder auf meinem vorzüglichen Stuhl. Gehen wir weit spazieren?«
Ein Wort zuviel
» Nein«, sagte Joachim, »weit darf ich ja gar nicht gehen. Um die• se Zeit gehe ich immer ein bißchen hinunter, durchs Dorf und bis Platz, wenn ich Zeit habe. Man sieht Läden und Leute und kauft ein, was man braucht. Man liegt vor Tische noch eine Stunde, und dann liegt man wieder bis vier Uhr, sei ganz unbesorgt.« Sie gingen im Sonnenschein die Anfahrt hinab und über• schritten den Wasserlauf und das schmale Geleise, die Bergge- stalten der rechten Tallehne vor Augen: das »Kleine Schiahorn«, die »Grünen Türme« und den »Dorfberg«, die Joachim bei Na• men nannte. Dort drüben, in einiger Höhe, lag der ummauerte Friedhof von Davos-Dorf, - auf diesen ebenfalls wies Joachim mit seinem Stocke hin. Und sie gewannen die Hauptstraße, die, um ein Stockwerk über die Talsohle erhöht, die terrassierte Leh-
ne entlang führte.
Von einem Dorf konnte übrigens nicht gut die Rede sein; je • denfalls war nichts davon als der Name übrig. Der Kurort hatte es aufgezehrt, indem er sich immerfort gegen den Taleingang hin ausdehnte, und der Teil der gesamten Siedelung, welcher
»Dorf« hieß, ging unmerklich und ohne Unterschied in den als
»Davos Platz« bezeichneten über. Hotels und Pensionen, alle mit gedeckten Veranden, Balkons und Liegehallen reichlich ver• sehen, auch kleine Privathäuser, in denen Zimmer zu vermieten waren, lagen zu beiden Seiten; hier und da kamen Neubauten; manchmal setzte auch die Bebauung aus, und die Straße ge• währte den Blick in die offenen Wiesengründe des Tals . . .
Hans Castorp, in seinem Verlangen nach dem gewohnten, geliebten Lebensreiz, hatte sich wieder eine Zigarre angezündet, und wahrscheinlich dank dem vorangegangenen Biere ver• mochte er zu seiner unaussprechlichen Genugtuung hier und da etwas von dem ersehnten Aroma zu verspüren: nur selten und schwach freilich, - es war eine gewisse nervöse Anstrengung nötig, um eine Ahnung des Vergnügens zu empfangen, und der abscheuliche Ledergeschmack herrschte bei weitem vor. Unfä• hig, sich in seine Ohnmacht zu finden, rang er eine Weile nach dem Genuß, der sich ihm entweder versagte oder nur spottend ahnungsweise von ferne zeigte, und warf die Zigarre endlich er• müdet und angewidert fort. Trotz seiner Benommenheit fühlte er die Höflichkeitsverpflichtung, Konversation zu machen, und suchte sich zu diesem Zwecke der ausgezeichneten Dinge zu erinnern, die er vorhin über die »Zeit« zu sagen gehabt hatte. Allein es erwies sich, daß er den ganzen »Komplex« ohne Rest vergessen hatte und über die Zeit auch nicht den geringsten Ge• danken mehr in seinem Kopfe beherbergte. Dafür begann er von körperlichen Angelegenheiten zu reden, und zwar etwas sonderbar.
»Wann mißt du dich denn wieder?« fragte er. »Nach dem Es• sen? Ja, das ist gut. Da ist der Organismus in voller Tätigkeit, da muß es sich zeigen. Daß Behrens von mir verlangte, ich sollte mich ebenfalls messen, das war doch wohl nur Spaß, höre mal, - Settembrini lachte ja aus vollem Halse darüber, es hätte doch abso• lut keinen Sinn. Ich habe ja auch nicht mal ein Thermometer.«
»Nun«, sagte Joachim, »das wäre das wenigste. Du brauchst dir nur eines zu kaufen. Hier sind überall Thermometer zu ha• ben, beinahe in jedem Laden.«
»Aber wozu denn! Nein, die Liegekur, die lasse ich mir ge• fallen, die will ich wohl mitmachen, aber das Messen wäre zu• viel für einen Hospitanten, das überlasse ich denn doch lieber euch hier oben. Wenn ich nur wüßte«, fuhr Hans Castorp fort,
indem er beide Hände zum Herzen führte wie ein Verliebter,
»warum ich die ganze Zeit solches Herzklopfen habe, - es ist so beunruhigend, ich denke schon länger darüber nach. Siehst du, man hat Herzklopfen, wenn einem eine ganz besondere Freude bevorsteht oder wenn man sich ängstigt, kurz, bei Gemütsbe• wegungen, nicht? Aber wenn einem das Herz nun ganz von sel• ber klopft, grundlos und sinnlos und sozusagen auf eigene Hand, das finde ich geradezu unheimlich, versteh mich recht, es ist ja so, als ob der Körper seine eigenen Wege ginge und kei• nen Zusammenhang mit der Seele mehr hätte, gewissermaßen wie ein toter Körper, der ja auch nicht wirklich tot ist - das gibt es gar nicht -, sondern sogar ein sehr lebhaftes Leben führt, nämlich auf eigene Hand: es wachsen ihm noch die Haare und Nägel, und auch sonst soll physikalisch und chemisch, wie ich mir habe sagen lassen, ein überaus munterer Betrieb darin herr• schen . . .«
»Was sind denn das für Ausdrücke«, sagte Joachim besonnen verweisend. »Ein munterer Betrieb!« Und vielleicht rächte er sich damit ein wenig für den Verweis, den er heute früh wegen des »Schellenbaums« erhalten.
»Aber es ist doch so! Es ist ein sehr munterer Betrieb! Warum nimmst du denn Anstoß daran?« fragte Hans Castorp. »Übri• gens erwähnte ich das nur nebenbei. Ich wollte nichts weiter sa• gen als: es ist unheimlich und quälend, wenn der Körper auf ei• gene Hand und ohne Zusammenhang mit der Seele lebt und sich wichtig macht, wie bei solchem unmotivierten Herzklop- fen. Man sucht förmlich nach einem Sinn dafür, einer Gemüts- bewegung, die dazu gehört, einem Gefühl der Freude oder der Angst, wodurch es sozusagen gerechtfertigt würde, - so geht es wenigstens mir, ich kann nur von mir reden.«
»|a, ja«, sagte Joachim seufzend, »es ist wohl so ähnlich, wie wenn man Fieber hat - dabei herrscht auch ein besonders ›mun- terer Betrieb‹ im Körper, um deinen Ausdruck zu gebrauchen, und da mag es schon sein, daß man sich unwillkürlich nach ei• ner Gemütsbewegung umsieht, wie du sagst, wodurch der Be•
•••eb einen halbwegs vernünftigen Sinn bekommt . . . Aber wir reden so unangenehmes Zeug«, sagte er mit bebender Stimme Und brach ab; worauf Hans Castorp nur mit den Achseln zuckte, Und zwar ganz so, wie er es gestern abend zuerst bei Joachim gesehen hatte.
Sie gingen eine Weile schweigend. Dann fragte Joachim:
»Nun, wie gefallen dir denn die Leute hier? Ich meine die an unserem Tisch?«
Hans Castorp machte ein gleichgültig musterndes Gesicht.
»Gott«, sagte er, »sie scheinen mir nicht sehr interessant. An den anderen Tischen sitzen, glaube ich, interessantere, aber das kommt einem vielleicht nur so vor. Frau Stöhr sollte sich das Haar waschen lassen, es ist so fett. Und diese Mazurka da, oder wie sie. heißt, kommt mir etwas albern vor. Immer muß sie sich das Taschentuch in den Mund stopfen vor lauter Ki• chern.«
Joachim lachte laut über die Namensverdrehung.
»›Mazurka‹ ist ausgezeichnet!« rief er. »Marusja heißt sie, wenn du erlaubst, - das ist soviel wie Marie. Ja, sie ist wirklich zu ausgelassen«, sagte er. »Und dabei hätte sie allen Grund, ge• setzter zu sein, denn sie ist gar nicht wenig krank.«
»Das sollte man nicht denken«, sagte Hans Castorp. »Sie ist so gut im Stand. Gerade für brustkrank sollte man sie nicht hal• ten.« Und er versuchte mit dem Vetter einen flotten Blick zu tauschen, fand aber, daß Joachims sonnverbranntes Gesicht eine fleckige Färbung zeigte, wie sonnverbrannte Gesichter sie an• nehmen, wenn das Blut daraus weicht, und daß sein Mund sich auf ganz eigentümliche Weise verzerrt hatte, — zu einem Aus• druck, der dem jungen Hans Castorp einen unbestimmten Schrecken einflößte und ihn veranlaßte, sofort den Gegenstand zu wechseln und sich nach anderen Personen zu erkundigen, wobei er Marusja und Joachims Gesichtsausdruck rasch zu ver• gessen suchte, was ihm auch völlig gelang.
Die Engländerin mit dem Hagebuttentee hieß Miß Robin• son. Die Nähterin war keine Nähterin, sondern Lehrerin an ei• ner staatlichen höheren Töchterschule in Königsberg, und dies war der Grund, weshalb sie sich so richtig ausdrückte. Sie hieß Fräulein Engelhart. Was die muntere alte Dame betraf, so wußte Joachim selber nicht, wie sie hieß, wie lange er auch schon hier oben war. Jedenfalls war sie die Großtante des Yoghurt essen• den jungen Mädchens, mit dem sie beständig im Sanatorium lebte. Aber am kränksten von denen am Tisch war Dr. Blumen• kohl, Leo Blumenkohl aus Odessa, - mit dem Schnurrbart und der sorgenvoll verschlossenen Miene. Schon ganze Jahre war er hier oben .. .
Es war jetzt städtisches Trottoir, auf dem sie gingen, - die Hauptstraße eines internationalen Treffpunktes, das sah man wohl. Flanierende Kurgäste begegneten ihnen, junge Leute zu• meist, Kavaliere in Sportanzügen und ohne Hut, Damen, eben• falls ohne Hut und in weißen Röcken. Man hörte Russisch und Englisch sprechen. Läden mit schmucken Schaufenstern reihten sich rechts und links, und Hans Castorp, dessen Neu• gier heftig mit seiner glühenden Müdigkeit kämpfte, zwang seine Augen, zu sehen, und verweilte lange vor einem Herren• modegeschäft, um festzustellen, daß die Auslage durchaus auf der Höhe sei.
Dann kam eine Rotunde mit gedeckter Galerie, in der eine Kapelle konzertierte. Hier war das Kurhaus. Auf mehreren Ten• nisplätzen waren Partien im Gange. Langbeinige, rasierte Jüng• linge in scharf gebügelten Flanellhosen, auf Gummisohlen und mit entblößten Unterarmen spielten gebräunten und weißge• kleideten Mädchen gegenüber, die anlaufend sich in der Sonne steil emporreckten, um den kreideweißen Ball hoch aus der Luft zu schlagen. Wie Mehlstaub lag es über den gepflegten Sportfel- dern. Die Vettern setzten sich auf eine freie Bank, um dem Spiele zuzusehen und es zu kritisieren.
»Du spielst hier wohl nicht?« fragte Hans Castorp.
»Ich darf ja nicht«, antwortete Joachim. »Wir müssen liegen, immer liegen . . . Settembrini sagt immer, wir lebten horizontal, wir seien Horizontale, sagt er, das ist so ein fauler Witz von ihm. - Es sind Gesunde, die da spielen, oder sie tun es verbote- nerweise. Übrigens spielen sie ja nicht sehr ernsthaft, - mehr des Kostüms wegen . . . Und was das Verbotensein betrifft, da gibt es noch mehr Verbotenes, was hier gespielt wird, Poker, verstehst du, und in dem und jenem Hotel auch petits chevaux, hei uns steht Ausweisung darauf, es soll das Allerschädlichste sein. Aber manche laufen noch nach der Abendkontrolle hinun- ter und pointieren. Der Prinz, von dem Behrens seinen Titel
hat, soll es auch immer getan haben.«
Hans Castorp hörte das kaum. Der Mund stand ihm offen, denn er konnte nicht recht durch die Nase atmen, ohne daß er übrigens Schnupfen gehabt hätte. Sein Herz hämmerte in fal- schem Takte zu der Musik, was er dumpf als quälend empfand. Und in diesem Gefühl von Unordnung und Widerstreit begann er einzuschlafen, als Joachim zum Heimgehen mahnte.
Sie legten den Weg fast schweigend zurück. Hans Castorp stolperte sogar ein paarmal auf der ebenen Straße und lächelte wehmütig darüber, indem er den Kopf schüttelte. Der Hinken• de fuhr sie im Lift in ihr Stockwerk. Sie trennten sich vor Nummer vierunddreißig mit einem kurzen »Auf Wiedersehen«. Hans Castorp steuerte durch sein Zimmer auf den Balkon hin• aus, wo er sich, wie er ging und stand, auf den Liegestuhl fallen ließ und, ohne die einmal eingenommene Lage zu verbessern, in einen schweren, von dem raschen Schlag seines Herzens peinlich belebten Halbschlummer sank.
Natürlich, ein Frauenzimmer
Wie lange das dauerte, wußte er nicht. Als der Zeitpunkt ge• kommen war, ertönte das Gong. Aber es rief noch nicht unmit• telbar zur Mahlzeit, es mahnte nur, sich bereit zu machen, wie Hans Castorp wußte, und so blieb er noch liegen, bis das metal• lische Dröhnen zum zweitenmal anschwoll und sich entfernte. Als Joachim durch das Zimmer kam, um ihn zu holen, wollte Hans Castorp sich umziehen, aber nun erlaubte Joachim es nicht mehr. Er haßte und verachtete Unpünktlichkeit. Wie man denn vorwärtskommen wolle und gesund. werden, um Dienst ma• chen zu können, sagte er, wenn man sogar zu schlapp sei, um die Essenszeit einzuhalten. Da hatte er natürlich recht, und Hans Castorp konnte lediglich darauf hinweisen, daß er ja nicht krank, dafür aber im höchsten Grad schläfrig sei. Er wusch sich nur rasch die Hände; dann gingen sie in den Saal hinunter, zum drittenmal.
Durch beide Eingänge strömten die Gäste herein. Auch durch die Verandatüren dort drüben, die offen standen, kamen sie, und bald saßen sie alle an den sieben Tischen, als seien sie nie davon aufgestanden. Dies war wenigstens Hans Castorps Ein• druck, - ein rein träumerischer und vernunftwidriger Eindruck natürlich, dessen sein umnebelter Kopf sich jedoch einen Au• genblick nicht erwehren konnte und an dem er sogar ein gewis• ses Gefallen fand; denn mehrmals im Laufe der Mahlzeit suchte er ihn sich zurückzurufen, und zwar mit dem Erfolge vollkom• mener Täuschung. Die muntere alte Dame redete wieder in ih• rer verwischten Sprache auf den ihr schräg gegenübersitzenden
Dr. Blumenkohl ein, der ihr mit besorgter Miene zuhörte. Ihre magere Großnichte aß endlich etwas anderes als Yoghurt, näm• lich die seimige Crême d'orge, welche die Saaltöchter in Tellern serviert hatten; doch nahm sie nur wenige Löffel davon und ließ sie stehen. Die hübsche Marusja stopfte ihr Taschentüch- lein, das ein Apfelsinenparfüm ausströmte, in den Mund, um ihr Kichern zu ersticken. Miß Robinson las dieselben rundlich ge• schriebenen Briefe, die sie schon heute morgen gelesen hatte. Offenbar konnte sie kein Wort deutsch und wollte es auch nicht können. Joachim sagte in ritterlicher Haltung etwas auf englisch zu ihr über das Wetter, was sie einsilbig kauend beantwortete, um dann ins Schweigen zurückzukehren. Was Frau Stöhr in ih- rer schottischen Wollbluse betraf, so war sie heute vormittag untersucht worden und berichtete darüber, indem sie sich auf ungebildete Weise zierte und die Oberlippe von ihren Hasen- zähnen zurückzog. Rechts oben, so klagte sie, habe sie Geräusch, außerdem klinge es unter der linken Achsel noch sehr verkürzt, und fünf Monate, habe »der Alte« gesagt, müsse sie noch blei- ben. In ihrer Unbildung nannte sie Hofrat Behrens »den Alten«. Übrigens zeigte sie sich empört darüber, daß der »Alte« heute nicht an ihrem Tische sitze. Der »Tournee« zufolge (sie meinte wohl »Turnus«) sei ihr Tisch heute mittag an der Reihe, wäh- rend »der Alte« schon wieder am Nebentische links sitze - (wirklich saß Hofrat Behrens dort und faltete seine riesigen Hände vor seinem Teller). Aber freilich, dort habe ja die dicke Frau Salomon aus Amsterdam ihren Platz, die jeden Wochentag dekolletiert zum Essen komme, und daran finde »der Alte« of• fenbar Gefallen, obgleich sie, Frau Stöhr, es nicht begreifen könne, denn bei jeder Untersuchung sähe er ja beliebig viel von Frau Salomon. Später erzählte sie in erregtem Flüstertone, daß gestern abend in der oberen gemeinsamen Liegehalle - der nämlich, die sich auf dem Dache befinde - das Licht ausgelöscht worden sei, und zwar zu Zwecken, die Frau Stöhr als »durch- sichtig« bezeichnete. »Der Alte« habe es gemerkt und so gewet- tert, daß es in der ganzen Anstalt zu hören gewesen sei. Aber den Schuldigen habe er natürlich wieder nicht ausfindig ge• macht, während man doch nicht auf der Universität studiert zu haben brauche, um zu erraten, daß es natürlich dieser Haupt• mann Miklosich aus Bukarest gewesen sei, dem es in Damenge- sellschaft überhaupt nie dunkel genug sein könne, - ein Mensch
ohne all und jede Bildung, obgleich er ein Korsett trage, und seinem Wesen nach einfach ein Raubtier, - ja, ein Raubtier, wiederholte Frau Stöhr mit erstickter Stimme, indem ihr auf Stirn und Oberlippe der Schweiß ausbrach. In welchen Bezie• hungen Frau Generalkonsul Wurmbrand aus Wien zu ihm ste• he, das wisse ja Dorf und Platz, - man könne wohl kaum noch von geheimnisvollen Beziehungen sprechen. Denn nicht genug, daß der Hauptmann zuweilen schon morgens zu der General• konsulin aufs Zimmer komme, wenn diese noch im Bett liege, worauf er dann ihrer ganzen Toilette beiwohne, sondern am vorigen Dienstag habe er das Zimmer der Wurmbrand über• haupt erst morgens um vier Uhr verlassen, - die Pflegerin des jungen Franz auf Nummer neunzehn, bei dem neulich der Pneumothorax mißglückt sei, habe ihn selbst dabei betroffen und vor Scham die gesuchte Tür verfehlt, so daß sie sich plötz• lich in dem Zimmer des Staatsanwalts Paravant aus Dortmund gesehen habe . . . Schließlich erging Frau Stöhr sich längere Zeit über eine »kosmische Anstalt«, die sich drunten im Ort befinde, und in der sie ihr Zahnwasser kaufe, - Joachim blickte starr auf seinen Teller nieder . . .
Das Mittagessen war sowohl meisterhaft zubereitet wie auch im höchsten Grade ausgiebig. Die nahrhafte Suppe eingerech• net, bestand es aus nicht weniger als sechs Gängen. Dem Fisch folgte ein gediegenes Fleischgericht mit Beilagen, hierauf eine besondere Gemüseplatte, gebratenes Geflügel dann, eine Mehl• speise, die jener von gestern abend an Schmackhaftigkeit nicht nachstand, und endlich Käse und Obst. Jede Schüssel ward zweimal gereicht - und nicht vergebens. Man füllte die Teller und aß an den sieben Tischen, - ein Löwenappetit herrschte im Gewölbe, ein Heißhunger, dem zuzusehen wohl ein Vergnügen gewesen wäre, wenn er nicht gleichzeitig auf irgendeine Weise unheimlich, ja abscheulich gewirkt hätte. Nicht nur die Munte• ren legten ihn an den Tag, die schwatzten und einander mit Brotkügelchen warfen, nein, auch die Stillen und Finsteren, die in den Pausen den Kopf in die Hände stützten und starrten. Ein halbwüchsiger Mensch am Nebentisch links, ein Schuljunge seinen Jahren nach, mit zu kurzen Ärmeln und dicken, kreis• runden Brillengläsern, schnitt alles, was er sich auf den Teller häufte, im voraus zu einem Brei und Gemengsei zusammen; dann beugte er sich darüber und schlang, indem er zuweilen mit
der Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wi- schen, - man wußte nicht, was da zu trocknen war, ob Schweiß oder Tränen.
Zwei Zwischenfälle ereigneten sich während der großen Mahlzeit und erregten Hans Castorps Aufmerksamkeit, soweit sein Befinden dies zuließ. Erstens fiel wieder die Glastür zu, - es war beim Fisch. Hans Castorp zuckte erbittert und sagte dann in zornigem Eifer zu sich selbst, daß er unbedingt diesmal den Eiter feststellen müsse. Er dachte es nicht nur, er sagte es auch mit den Lippen, so ernst war es ihm. »Ich muß es wissen!« flü- sterte er mit übertriebener Leidenschaftlichkeit, so daß Miß Robinson sowohl wie die Lehrerin ihn verwundert anblickten.
Und dabei wandte er den ganzen Oberkörper nach links und riß seine blutüberfüllten Augen auf.
Es war eine Dame, die da durch den Saal ging, eine Frau, ein junges Mädchen wohl eher, nur mittelgroß, in weißem Sweater und farbigem Rock, mit rötlichblondem Haar, das sie einfach in Zöpfen um den Kopf gelegt trug. Hans Castorp sah nur wenig von ihrem Profil, fast gar nichts. Sie ging ohne Laut, was zu dem Lärm ihres Eintritts in wunderlichem Gegensatz stand, ging eigentümlich schleichend und etwas vorgeschobenen Kop-
fes zum äußersten Tische links, der senkrecht zur Verandatür stand, de m »Guten Russentisch« nämlich, wobe i sie die eine Hand in der Tasche der anliegenden Wolljacke hielt, die ander e aber, das Haar stützend un d ordnend , zu m Hinterkop f führte. Hans Castorp blickte auf diese Hand , - er hatte viel Sinn un d kritische Aufmerksamkeit für Händ e un d war gewöhnt , auf die - sen Körperteil zuerst, wen n er neu e Bekanntschaften machte, sein Augenmer k zu richten. Sie war nicht sonderlich damenhaft, die Hand, die das Haar stützte, nicht so gepflegt un d veredelt, wie Frauenhände in des junge n Hans Castorp gesellschaftlicher Sphäre zu sein pflegten. Ziemlich breit un d kurzfingrig, hatte sie etwas Primitives un d Kindliches, etwas vo n der Han d eines Schulmädchens; ihre Näge l wußte n offenbar nichts vo n Mani - küre, sie waren schlecht un d recht beschnitten, ebenfalls wi e bei einem Schulmädchen, un d an ihren Seiten schien die Hau t et • was aufgerauht, fast so, als werd e hier das kleine Laster des Fin- gerkauens gepflegt. Übrigen s erkannte Han s Castorp dies eher ahnungsweise, als daß er es eigentlich gesehen hätte, die Entfer• nung war doc h zu bedeutend . Mi t eine m Kopfnicken begrüßt e
die Nachzüglerin ihre Tischgesellschaft, und indem sie sich setzte, an die Innenseite des Tisches, den Rücken gegen den Saal, zur Seite Dr. Krokowskis, der dort den Vorsitz hatte, wandte sie, noch immer die Hand am Haar, den Kopf über die Schulter und überblickte das Publikum, - wobei Hans Castorp flüchtig bemerkte, daß sie breite Backenknochen und schmale Augen hatte . . . Eine vage Erinnerung an irgend etwas und ir- gendwen berührte ihn leicht und vorübergehend, als er das sah .. .
Natürlich, ein Frauenzimmer! dachte Hans Castorp, und wie• der murmelte er es ausdrücklich vor sich hin, so daß die Lehre• rin, Fräulein Engelhart, verstand, was er sagte. Die dürftige alte Jungfer lächelte gerührt.
»Das ist Madame Chauchat«, sagte sie. »Sie ist so lässig. Eine entzückende Frau.« Und dabei verstärkte sich die flaumige Röte auf Fräulein Engelharts Wangen um eine Schattierung, - was übrigens immer der Fall war, sobald sie den Mund öffnete.
»Französin?« fragte Hans Castorp streng.
»Nein, sie ist Russin«, sagte die Engelhart. »Vielleicht ist der Mann Franzose oder französischer Abkunft, das weiß ich nicht sicher.«
Ob es der dort sei, fragte Hans Castorp, noch immer gereizt, und deutete auf einen Herrn mit vorhängenden Schultern am Guten Russentisch.
O nein, er sei nicht hier, entgegnete die Lehrerin. Er sei überhaupt noch nicht hier gewesen, sei hier ganz unbekannt.
»Sie sollte die Tür ordentlich zumachen!« sagte Hans Castorp.
»Immer läßt sie sie zufallen. Das ist doch eine Unmanier.«
Und da die Lehrerin den Verweis demütig lächelnd einsteck• te, als sei sie selber die Schuldige, so war nicht weiter die Rede von Madame Chauchat. —
Das zweite Vorkommnis bestand darin, daß Dr. Blumenkohl vorübergehend den Saal verließ, - weiter war es nichts. Plötz• lich verstärkte sich der leise angewiderte Ausdruck seines Ge• sichtes, sorgenvoller als sonst blickte er auf einen Punkt, schob dann mit bescheidener Bewegung seinen Stuhl zurück und ging hinaus. Hier aber zeigte sich Frau Stöhrs große Unbildung im vollsten Licht, denn wahrscheinlich aus gemeiner Genugtuung darüber, daß sie weniger krank war als Blumenkohl, begleitete sie seinen Weggang mit halb mitleidigen, halb verächtlichen
11 2
Glossen. »Der Ärmste!« sagte sie. »Der pfeift bald aus dem letz- ten Loch. Schon wieder muß er sich mit dem Blauen Heinrich besprechen.« Ganz ohne Überwindung, mit störrisch unwissen• der Miene, brachte sie die fratzenhafte Bezeichnung »der Blaue Heinrich« über die Lippen, und Hans Castorp empfand ein Ge• misch von Schrecken und Lachreiz, als sie es sagte. Übrigens kehrte Dr. Blumenkohl nach wenigen Minuten in der gleichen bescheidenen Haltung zurück, in der er hinausgegangen war, nahm wieder Platz und fuhr fort zu essen. Auch er aß sehr viel, von jedem Gerichte zweimal, stumm und mit sorgenvoll ver- schlossener Miene.
Dann war das Mittagessen beendet: dank einer gewandten Bedienung - denn die Zwergin besonders war ein sonderbar raschfüßiges Wesen - hatte es nur eine gute Stunde gedauert. Hans Castorp, schwer atmend, und ohne recht zu wissen, wie er heraufgekommen war, lag wieder auf dem vorzüglichen Stuhl in seiner Balkonloge, denn nach dem Essen war Liegekur bis zum Tee, - sogar die wichtigste des Tages und streng einzuhal• ten. Zwischen den undurchsichtigen Glaswänden, die ihn von Joachim trennten, lag er und dämmerte mit pochendem Herzen, Indem er Luft durch den Mund holte. Als er sein Taschentuch benutzte, fand er es von Blut gerötet, aber er hatte nicht die Kraft, sich Gedanken darüber zu machen, obgleich er ja etwas ängstlich mit sich war und von Natur ein wenig zu hypochon- drischen Grillen neigte. Wieder hatte er sich eine Maria Manci- ni angezündet, und diesmal rauchte er sie zu Ende, mochte sie nun wie immer schmecken. Schwindelig, beklommen und träu• merisch bedachte er, wie sehr sonderbar es ihm hier oben erge• he. Zwei- oder dreimal ward seine Brust von innerem Lachen erschüttert über die schauderhafte Bezeichnung, deren Frau Stöhr in ihrer Unbildung sich bedient hatte.
- Herr Albin
Drunten im Garten hob sich das Phantasie-Fahnentuch mit dem Schlangenstabe zuweilen im Windhauch. Der Himmel hatte sich wieder gleichmäßig bedeckt. Die Sonne war fort, und so• gleich war es fast unwirtlich kühl geworden. Die gemeinsame Liegehalle schien voll besetzt; es herrschte Gespräch mit Geki- cher dort unten.
11 3
»Herr Albin, ich flehe Sie an, legen Sie das Messer fort, stek- ken Sie es ein, es geschieht ein Unglück damit!« klagte eine ho• he, schwankende Damenstimme. Und:
»Bester Herr Albin, um Gottes willen, schonen Sie unsere Nerven und bringen Sie uns das entsetzliche Mordding aus den Augen!« mischte sich eine zweite darein, - worauf ein blond• köpfiger junger Mann, welcher, eine Zigarette im Munde, seit• wärts auf dem vordersten Liegestuhl saß, in frechem Tone erwi• derte:
»Fällt mir nicht ein! Die Damen werden mir doch erlauben, etwas mit meinem Messer zu spielen! Nun ja, gewiß, es ist ein besonders scharfes Messer. Ich habe es in Kalkutta einem blin• den Zauberer abgekauft... Er konnte es verschlucken, und gleich darauf grub sein Boy es fünfzig Schritte von ihm entfernt aus dem Boden . . . Wollen Sie sehen? Es ist viel schärfer als ein Rasiermesser. Man braucht die Schneide nur zu berühren, und sie geht einem ins Fleisch wie durch Butter. Warten Sie, ich zei• ge es Ihnen näher . . .« Und Herr Albin stand auf. Ein Ge• kreisch erhob sich. »Nein, jetzt hole ich meinen Revolver!« sag• te Herr Albin. »Das wird Sie mehr interessieren. Ein ganz ver• flixtes Ding. Von einer Durchschlagkraft . . . Ich hole ihn aus meinem Zimmer.«
»Herr Albin, Herr Albin, tun Sie es nicht!« zeterten mehrere Stimmen. Aber Herr Albin kam schon aus der Liegehalle her• vor, um auf sein Zimmer zu gehen, - blutjung und schlenkricht, mit rosigem Kindergesicht und kleinen Backenstreifen neben den Ohren.
»Herr Albin«, rief eine Dame hinter ihm drein, »holen Sie lieber Ihren Paletot, ziehen Sie ihn an, tun Sie es mir zuliebe! Sechs Wochen haben Sie mit Lungenentzündung gelegen, und nun sitzen Sie hier ohne Überzieher und decken sich nicht ein• mal zu und rauchen Zigaretten! Das heißt Gott versuchen. Herr Albin, mein Ehrenwort!«
Aber er lachte nur höhnisch im Weggehen, und schon nach wenigen Minuten kehrte er mit dem Revolver zurück. Da kreischten sie noch alberner als vorhin, und man hörte, daß mehrere von den Stühlen springen wollten, sich in ihre Decken verwickelten und stürzten.
»Sehen Sie, wie klein und blank er ist«, sagte Herr Albin,
»aber wenn ich hier drücke, so beißt er zu . . .« Ein neues Ge-
kreisch. »Er ist natürlich scharf geladen«, fuhr Herr Albin fort.
»In dieser Scheibe hier stecken die sechs Patronen, die dreht sich bei jedem Schuß um ein Loch weiter . . . Übrigens halte ich mir das Ding nicht zum Spaß«, sagte er, da er bemerkte, daß die Wirkung sich abnutzte, ließ den Revolver in die Brusttasche gleiten und setzte sich wieder mit übergeschlagenem Bein auf seinen Stuhl, indem er sich eine frische Zigarette anzündete.
»Durchaus nicht zum Spaß«, wiederholte er und preßte die Lip• pen zusammen.
»Wozu denn? Wozu denn?« fragten ahnungsvoll bebende Stimmen. »Entsetzlich!« schrie plötzlich eine einzelne, und da nickte Herr Albin.
»Ich sehe, Sie fangen an, zu begreifen«, sagte er. »In der Tat, dazu halte ich ihn mir«, fuhr er leichthin fort, nachdem er trotz der überstandenen Lungenentzündung eine Menge Rauch ein•
•ezogen und wieder von sich geblasen hatte. »Ich halte ihn in Bereitschaft für den Tag, wo mir dieser Trödel hier zu langwei• lig wird und wo ich die Ehre haben werde, mich ergebenst zu empfehlen. Die Sache ist ziemlich einfach . . . Ich habe einiges Studium darauf verwandt und bin mit mir im reinen darüber, wie sie am besten zu deichseln ist. (Bei dem Worte »deichseln« ertönte ein Schrei.) Die Herzpartie schaltet aus . . . Der Ansatz ist mir da nicht recht bequem . . . Auch ziehe ich es vor, das Be• wußtsein an Ort und Stelle auszulöschen, nämlich indem ich mir so einen hübschen kleinen Fremdkörper in dieses interes• sante Organ appliziere . . .« Und Herr Albin deutete mit dem Zeigefinger auf seinen kurzgeschorenen Blondschädel. »Man muß hier ansetzen« - Herr Albin zog den vernickelten Revolver wieder aus der Tasche und klopfte mit der Mündung an seine Schläfe -, »hier oberhalb der Schlagader . . . Sogar ohne Spiegel ist es eine glatte Sache . . .«
Mehrstimmiger, flehender Protest ward laut, in den sich so• gar ein heftiges Schluchzen mischte.
»Herr Albin, Herr Albin, den Revolver weg, nehmen Sie den Revolver von Ihrer Schläfe weg, es ist nicht anzusehen! Herr Albin, Sie sind jung, Sie werden gesund werden, Sie werden ins Leben zurückkehren und sich der allgemeinen Beliebtheit er• freuen, mein Ehrenwort! Ziehen Sie nur Ihren Mantel an, legen Sie sich hin, decken Sie sich zu, machen Sie Kur! Jagen Sie den Bademeister nicht wieder fort, wenn er kommt, um Sie mit Al-
kohol abzureiben! Lassen Sie das Zigarettenrauchen, Herr Albin, hören Sie, wir bitten um Ihr Leben, Ihr junges, kostbares Le• ben!«
Aber Herr Albin war unerbittlich.
»Nein, nein«, sagte er, »lassen Sie mich, es ist gut, ich danke Ihnen. Ich habe noch nie einer Dame etwas abgeschlagen, aber Sie werden einsehen, daß es unnütz ist, dem Schicksal in die Speichen zu fallen. Ich bin im dritten Jahr hier . . . ich habe es satt und spiele nicht mehr mit, - können Sie mir das verargen? Unheilbar, meine Damen, - sehen Sie mich an, wie ich hier sit• ze, bin ich unheilbar, - der Hofrat selbst macht kaum noch eh• ren- und schandenhalber ein Hehl daraus. Gönnen Sie mir das bißchen Ungebundenheit, das für mich aus dieser Tatsache re• sultiert! Es ist wie auf dem Gymnasium, wenn es entschieden war, daß man sitzen blieb und nicht mehr gefragt wurde und nichts mehr zu tun brauchte. Zu diesem glücklichen Zustand bin ich nun endgültig wieder gediehen. Ich brauche nichts mehr zu tun, ich komme nicht mehr in Betracht, ich lache über das Gan• ze. Wollen Sie Schokolade? Bedienen Sie sich! Nein, Sie berau• ben mich nicht, ich habe massenweise Schokolade auf meinem Zimmer. Acht Bonbonnieren, fünf Tafeln Gala-Peter und vier Pfund Lindtschokolade habe ich da oben, - das alles haben die Damen des Sanatoriums mir während meiner Lungenentzün• dung zustellen lassen . . .«
Irgendwoher gebot eine Baßstimme Ruhe. Herr Albin lachte kurz auf, - es war ein flatternd-abgerissenes Lachen. Dann ward es still in der Liegehalle, so still, als sei ein Traum oder Spuk zerstoben; und sonderbar klangen die gesprochenen Worte im Schweigen nach. Hans Castorp lauschte ihnen, bis sie völlig er• storben waren, und obwohl ihm unbestimmt schien, als ob Herr Albin ein Laffe sei, so konnte er sich doch nicht eines gewissen Neides auf ihn erwehren. Namentlich jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis hatte ihm Eindruck gemacht, denn er selbst war ja in Untersekunda sitzengeblieben, und er erinnerte sich wohl des etwas schimpflichen, aber humoristischen, ange• nehm verwahrlosten Zustandes, dessen er genossen hatte, als er im vierten Quartal das Rennen aufgegeben und »über das Gan• ze« hatte lachen können. Da seine Betrachtungen dumpf und verworren waren, so ist es schwer, sie zu präzisieren. Hauptsäch• lich schien ihm, daß die Ehre bedeutende Vorteile für sich habe,
aber die Schande nicht minder, ja, daß die Vorteile der letzteren geradezu grenzenloser Art seien. Und indem er sich probeweise in Herrn Albins Zustand versetzte und sich vergegenwärtigte, wie es sein müsse, wenn man endgültig des Druckes der Ehre ledig war und auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande genoß, erschreckte den jungen Mann ein Gefühl von wüster Süßigkeit, das sein Herz vorübergehend zu noch hastigerem ( lange erregte.
Satana macht ehrrührige Vorschläge
Später verlor er das Bewußtsein. Nach seiner Taschenuhr war es halb vier, als Gespräch hinter der linken Glaswand ihn weckte: Dr. Krokowski, der um diese Zeit ohne den Hofrat die Runde machte, sprach dort russisch mit dem unmanierlichen Ehepaar, erkundigte sich, wie es schien, nach dem Befinden des Gatten und ließ sich seine Fiebertabelle zeigen. Dann aber setzte er sei• nen Weg nicht durch die Balkonlogen fort, sondern umging Hans Castorps Abteil, indem er sich auf den Korridor zurückbe• gab und durch die Zimmertür bei Joachim eintrat. Daß man solchergestalt einen Bogen um ihn beschrieb und ihn links lie• gen ließ, empfand Hans Castorp denn doch als etwas verletzend, obgleich ihn nach einem Zusammensein unter vier Augen mit Dr. Krokowski ja durchaus nicht verlangte. Freilich, er war eben gesund und zählte nicht mit, - denn bei denen hier oben, dach- te er, lagen die Dinge so, daß derjenige nicht in Betracht kam und nicht gefragt wurde, der die Ehre hatte, gesund zu sein, und das ärgerte den jungen Castorp.
Nachdem Dr. Krokowski sich bei Joachim zwei oder drei Minuten verweilt hatte, ging er den Balkon entlang weiter, und I (ans Castorp hörte den Vetter sagen, daß man nun aufstehen und sich zur Vespermahlzeit bereit machen könne. »Schön«, sagte er und stand auf. Aber es schwindelte ihn sehr vom langen Liegen, und der unerquickliche Halbschlaf hatte ihm das Gesicht aufs neue peinlich erhitzt, während er übrigens zum Frösteln neigte, - vielleicht hatte er sich nicht warm genug zu• gedeckt. Er wusch sich Augen und Hände, ordnete sein Haar und seine Kleider und traf mit Joachim auf dem Korridor zu• sammen.
»Hast du diesen Herrn Albin gehört?« fragte er, als sie die Treppen hinuntergingen . . .
»Natürlich«, sagte Joachim. »Der Mensch müßte diszipliniert werden. Stört da die ganze Mittagsruhe mit seinem Geschwätz und regt die Damen so auf, daß er sie um Wochen zurückbringt. Eine grobe Insubordination. Aber wer will denn den Denun• zianten machen. Und außerdem sind solche Reden ja den mei• sten als Unterhaltung willkommen.«
»Hältst du es für möglich«, fragte Hans Castorp, »daß er Ernst macht mit seiner ›glatten Sache‹, wie er sich ausdrückt, und sich einen Fremdkörper appliziert?«
»Ach, doch«, antwortete Joachim, »ganz unmöglich ist es nicht. Dergleichen kommt vor hier oben. Zwei Monate bevor ich kam, hat sich ein Student, der schon lange hier war, nach ei• ner Generaluntersuchung im Walde drüben aufgehängt. Es war in meinen ersten Tagen noch viel die Rede davon.«
Hans Castorp gähnte erregt.
»Ja, gut fühle ich mich nicht bei euch«, erklärte er, »das kann ich nicht sagen. Ich halte es für möglich, daß ich nicht bleiben kann, du, daß ich abreisen muß, - würdest du es mir weiter übelnehmen?«
»Abreisen? Was fällt dir ein!« rief Joachim. »Unsinn. Wo du gerade erst angekommen bist. Wie willst du denn urteilen nach dem ersten Tage!«
»Gott, ist noch immer der erste Tag? Mir ist ganz, als wär ich schon lange - lange bei euch hier oben.«
»Nun fange nur nicht wieder an, über die Zeit zu spintisie• ren!« sagte Joachim. »Ganz konfus hast du mich heute morgen gemacht.«
»Nein, sei beruhigt, ich habe alles vergessen«, erwiderte Hans Castorp. »Den ganzen Komplex. Jetzt bin ich auch kein bißchen scharf mehr im Kopfe, das ist vorüber . . . Nun gibt es also Tee.«
»Ja, und dann gehen wir wieder bis zu der Bank von heute morgen.«
»In Gottes Namen. Aber hoffentlich treffen wir Settembrini nicht wieder. Ich kann mich heute an keinem gebildeten Ge• spräch mehr beteiligen, das sage ich dir im voraus.«
Im Speisesaal wurden alle Getränke geschenkt, die zu dieser Stunde nur irgend in Betracht kommen. Miß Robinson trank wieder ihren blutroten Hagebuttentee, während die Großnichte
Yoghurt löffelte. Außerdem gab es Milch, Tee, Kaffee, Schoko• lade, ja sogar Fleischbrühe, und überall waren die Gäste, die seit dem üppigen Mittagsmahl zwei Stunden liegend verbracht hat- ten, eifrig beschäftigt, Butter auf große Schnitten Rosinenku- chen zu streichen.
Hans Castorp hatte sich Tee geben lassen und tauchte Zwie- back hinein. Auch etwas Marmelade versuchte er. Den Rosinen- kuchen betrachtete er genau, doch erzitterte er buchstäblich bei dem Gedanken, davon zu essen. Abermals saß er an seinem Platze im Saal mit dem einfältig bunten Gewölbe, den sieben Tischen, - zum viertenmal. Etwas später, um sieben Uhr, saß er zum fünftenmal dort, und da galt es das Abendessen. In die Zwischenzeit, welche kurz und nichtig war, fiel ein Spaziergang zu jener Bank an der Bergwand, beim Wasserrinnsal - der Weg war jetzt dicht belebt von Patienten, so daß die Vettern häufig zu grüßen hatten - und eine neuerliche Liegekur auf dem Bal• kon, von flüchtigen und gehaltlosen anderthalb Stunden. Hans
Castorp fröstelte heftig dabei.
Zur Abendmahlzeit kleidete er sich gewissenhaft um und aß dann zwischen Miß Robinson und der Lehrerin Juliennesuppe, gebackenes und gebratenes Fleisch nebst Zubehör, zwei Stücke von einer Torte, in der alles vorkam: Makronenteig, Buttercre• me, Schokolade, Fruchtmus und Marzipan, und sehr guten Käse auf Pumpernickel. Wieder ließ er sich eine Flasche Kulmbacher dazu geben. Als er jedoch sein hohes Glas zur Hälfte geleert hatte, erkannte er klar und deutlich, daß er ins Bett gehöre. In deinem Kopfe rauschte es, seine Augenlider waren wie Blei, sein Herz ging wie eine kleine Pauke, und zu seiner Qual bildete er
»ich ein, daß die hübsche Marusja, die, vornüber geneigt, ihr Gesicht in der Hand mit dem kleinen Rubin verbarg, über ihn lache, obgleich er sich so angestrengt bemüht hatte, keinerlei Veranlassung dazu zu geben. Wie aus weiter Ferne hörte er Frau Stöhr etwas erzählen oder behaupten, was ihm als so tolles Zeug erschien, daß er in verwirrte Zweifel geriet, ob er noch richtig höre oder ob Frau Stöhrs Äußerungen sich vielleicht in seinem Kopfe zu Unsinn verwandelten. Sie erklärte, daß sie achtund- zwanzig verschiedene Fischsaucen zu bereiten verstehe, - sie ha• be den Mut, dafür einzustehen, obgleich ihr eigener Mann sie gewarnt habe, davon zu sprechen. »Sprich nicht davon!« habe er gesagt. »Niemand wird es dir glauben, und wenn man es glaubt,
so wird man es lächerlich finden!« Und doch wolle sie es heute einmal sagen und offen bekennen, daß es achtundzwanzig Fischsaucen seien, die sie machen könne. Das schien dem armen Hans Castorp entsetzlich; er erschrak, griff sich mit der Hand an die Stirn und vergaß vollkommen, einen Bissen Pumpernickel mit Chester, den er im Munde hatte, fertig zu kauen und hin• unterzuschlucken. Noch als man vom Tische aufstand; hatte er ihn im Munde.
Man ging durch die Glastür zur Linken hinaus, jene fatale, die immer zufiel und die geradewegs in die vordere Halle führ• te. Fast alle Gäste nahmen diesen Weg, denn es zeigte sich, daß um die Stunde nach dem Diner in der Halle und den anliegen• den Salons eine Art von Geselligkeit stattfand. Die Mehrzahl der Patienten stand in kleinen Gruppen plaudernd umher. An zwei grün ausgeschlagenen Klapptischen lag man dem Spiele ob; es war Domino an dem einen, Bridge an dem anderen Ti• sche, und hier waren es nur junge Leute, die spielten, darunter Herr Albin und Hermine Kleefeld. Ferner gab es ein paar unter• haltende optische Gegenstände im ersten Salon: einen stereo• skopischen Guckkasten, durch dessen Linsen man die in seinem Innern aufgestellten Photographien, zum Beispiel einen vene• zianischen Gondolier, in starrer und blutloser Körperlichkeit er• blickte; zweitens ein fernrohrförmiges Kaleidoskop, an dessen Linse man ein Auge legte, um sich, nur durch leichte Handha• bung eines Rades, buntfarbige Sterne und Arabesken in zauber• hafter Abwechslung vorzugaukeln; eine drehende Trommel endlich, in die man kinematographische Filmstreifen legte und durch deren Öffnungen, wenn man seitlich hineinsah, ein Mül• ler, der sich mit einem Schornsteinfeger prügelte, ein Schulmei• ster, einen Knaben züchtigend, ein springender Seiltänzer und ein Bauernpärchen im ländlertanz zu beobachten waren. Hans Castorp, die kalten Hände auf den Knien, blickte längere Zeit in jeden der Apparate. Er verweilte sich auch ein wenig am Bridgetische, wo der unheilbare Herr Albin mit hängenden Mundwinkeln und weltmännisch wegwerfenden Bewegungen die Karten handhabte. In einem Winkel saß Dr. Krokowski, be• griffen in frischem und herzlichem Gespräch mit einem Halb• kreise von Damen, zu welchem Frau Stöhr, Frau Iltis und Fräu• lein Levi gehörten. Die Inhaber des Guten Russentisches hatten sich in den anstoßenden kleineren Salon zurückgezogen, der
nur durch Portieren vom Spielzimmer getrennt war, und bilde• ten dort eine intime Clique. Es waren außer Madame Chauchat: ein blondbärtiger, schlaffer Herr mit konkavem Brustkasten und glotzenden Augäpfeln; ein tief brünettes Mädchen von origi• nellem und humoristischem Typus, mit goldenen Ohrringen und wirrem Wollhaar; ferner Dr. Blumenkohl, der sich ihnen zugesellt hatte, und noch zwei hängeschultrige Jünglinge. Ma• dame Chauchat trug ein blaues Kleid mit weißem Spitzenkra• gen. Sie saß, als Mittelpunkt ihrer Gruppe, auf dem Sofa hinter dem runden Tisch, im Hintergrunde des kleinen Gemaches, das Gesicht dem Spielzimmer zugewandt. Hans Castorp, der die ungezogene Frau nicht ohne Mißbilligung betrachten konnte, dachte bei sich: Sie erinnert mich an irgend etwas, doch kann ich nicht sagen, an was . . . Ein langer Mensch von etwa dreißig Jahren und mit gelichtetem Haupthaar spielte an dem kleinen braunen Pianoforte dreimal hintereinander den Hochzeits- marsch aus dem »Sommernachtstraum«, und als einige Damen ihn darum baten, begann er das melodiöse Stück zum vierten• mal, nachdem er einer nach der anderen tief und schweigend in die Augen geblickt hatte.
»Ist es erlaubt, sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen, In• genieur?« fragte Settembrini, welcher, die Hände in den Hosen- taschen, zwischen den Gästen umhergeschlendert war und nun vor Hans Castorp hintrat . . . Noch immer trug er seinen grauen, I lausartigen Rock und die hell karierten Beinkleider. Er lächelte bei seiner Anrede, und wieder empfand Hans Castorp etwas wie Ernüchterung beim Anblick dieses fein und spöttisch gekräusel• ten Mundwinkels unter der Biegung des schwarzen Schnurrbar• tes. Übrigens blickte er den Italiener ziemlich blöde, mit schlaf•
••• Munde und rotgeäderten Augen an.
»Ach, Sie sind es«, sagte er, »der Herr vom Morgenspazier• gang, den wir bei dieser Bank da oben . . . beim Wasserlauf. . . Natürlich, ich habe Sie sofort wieder erkannt. Wollen Sie glau• ben«, fuhr er fort, obgleich er wohl einsah, daß er es nicht hätte sagen dürfen, »daß ich Sie damals im ersten Augenblick für ei• nen Drehorgelmann gehalten habe? . . . Das war natürlich der reine Unsinn«, setzte er hinzu, da er sah, daß Settembrinis Blick einen kühl forschenden Ausdruck annahm, »- eine furchtbare Dummheit, mit einem Wort! Es ist mir sogar vollständig unbe• greiflich, wie in aller Welt ich . . .«
»Beunruhigen Sie sich nicht, es hat nichts zu sagen«, erwider• te Settembrini, nachdem er den jungen Mann noch einen Au• genblick schweigend betrachtet hatte. »Und wie haben Sie also Ihren Tag verbracht, - den ersten Ihres Aufenthaltes an diesem Lustorte?«
»Ich danke sehr. Ganz vorschriftsmäßig«, antwortete Hans Castorp. »Vorwiegend auf ›horizontale Art‹, wie Sie es mit Vor• liebe nennen sollen.«
Settembrini lächelte. »Es mag sein, daß ich mich gelegentlich so ausgedrückt habe«, sagte er. »Nun, und Sie fanden sie kurz• weilig, diese Lebensweise?«
»Kurzweilig und langweilig, wie Sie nun wollen«, erwiderte Hans Castorp. »Das ist zuweilen schwer zu unterscheiden, wis• sen Sie. Ich habe mich durchaus nicht gelangweilt, - dazu ist es doch ein allzu munterer Betrieb bei Ihnen hier oben. Man be• kommt so viel Neues und Merkwürdiges zu hören und zu se• hen . . . Und doch ist mir auch andererseits wieder, als ob ich nicht nur einen Tag, sondern schon längere Zeit hier wäre, - ge• radezu, als ob ich hier schon älter und klüger geworden wäre, so kommt es mir vor.«
»Klüger auch?« sagte Settembrini und zog die Brauen hoch.
»Wollen Sie mir die Frage erlauben: Wie alt sind Sie eigent• lich?«
Aber siehe da, Hans Castorp wußte es nicht! Er wußte im Augenblick nicht, wie alt er sei, trotz heftiger, ja verzweifelter Anstrengungen, sich darauf zu besinnen. Um Zeit zu gewinnen, ließ er sich die Frage wiederholen und sagte dann:
» . . . Ich . . . wie alt? Ich bin natürlich im vierundzwanzig• sten. Demnächst werde ich vierundzwanzig. Verzeihen Sie, ich bin müde!« sagte er. »Und Müdigkeit ist noch gar nicht der Ausdruck für meinen Zustand. Kennen Sie das, wenn man träumt und weiß, daß man träumt, und zu erwachen sucht und nicht aufwachen kann? Genau so ist mir zumut. Unbedingt muß ich Fieber haben, anders kann ich es mir gar nicht erklären. Wollen Sie glauben, daß ich bis zu den Knien hinauf kalte Füße habe? Wenn man so sagen darf, denn die Knie sind ja natürlich nicht mehr die Füße, - entschuldigen Sie, ich bin im höchsten Grade konfus, und das ist ja auch am Ende kein Wunder, wenn man schon am frühen Morgen mit dem . . . mit dem Pneumo• thorax angepfiffen wird und nachher die Reden dieses Herrn
Albin mit anhört und obendrein in horizontaler Lage. Denken Sie, mir ist immer, als dürfte ich meinen fünf Sinnen nicht mehr recht trauen, und ich muß sagen, das geniert mich noch mehr, als die Hitze im Gesicht und die kalten Füße. Sagen Sie mir offen: halten Sie es für möglich, daß Frau Stöhr achtund• zwanzig Fischsaucen zu machen versteht? Ich meine nicht, ob sie sie wirklich machen kann, - das halte ich für ausgeschlos• sen -, sondern ob sie es auch nur wirklich vorhin bei Tische be• hauptet hat oder ob es mir nur so vorkam, - nur das möchte ich wissen.«
Settembrini sah ihn an. Er schien nicht zugehört zu haben. Wieder hatten seine Augen »sich festgesehen«, waren in eine fi• xe und blinde Einstellung geraten, und wie heute morgen sagte er je dreimal, »so, so, so« und »sieh, sieh, sieh«, - spöttisch- nachdenklich und mit scharfem S-Laut.
»Vierundzwanzig sagten Sie?« fragte er dann . . .
»Nein, achtundzwanzig!« sagte Hans Castorp. »Achtund• zwanzig Fischsaucen! Nicht Saucen im allgemeinen, sondern speziell Fischsaucen, das ist das Ungeheuerliche.«
»Ingenieur!« sagte Settembrini zornig und ermahnend.
»Nehmen Sie sich zusammen und lassen Sie mich mit diesem liederlichen Unsinn in Ruhe! Ich weiß nichts davon und will nichts davon wissen. - Im vierundzwanzigsten, sagten Sie? I Im . . . gestatten Sie mir noch eine Frage oder einen unmaß• geblichen Vorschlag, wenn Sie so wollen. Da der Aufenthalt Ih- nen nicht zuträglich zu sein scheint, da Sie sich körperlich und, wenn mich nicht alles täuscht, auch seelisch nicht wohl bei uns befinden, - wie wäre es denn da, wenn Sie darauf verzichteten, hier älter zu werden, kurz, wenn Sie noch heute nacht wieder aufpackten und sich morgen mit den fahrplanmäßigen Schnell• zügen auf- und davonmachten?«
»Sie meinen, ich sollte abreisen?« fragte Hans Castorp . . . "Wo ich gerade erst angekommen bin? Aber nein, wie will ich denn urteilen nach dem ersten Tage!«
Zufällig blickte er ins Nebenzimmer bei diesen Worten und sah dort Frau Chauchat von vorn, ihre schmalen Augen und breiten Backenknochen. Woran, dachte er, woran und an wen in aller Welt erinnert sie mich nur. Aber sein müder Kopf wußte die Frage trotz einiger Anstrengung nicht zu beantworten.
»Natürlich fällt es mir nicht so ganz leicht, mich bei Ihnen
0 notes