Kleiner Mann - was nun?
Ich habe in diesem Jahr viele ganz verschiedene Stücke in Düsseldorfer Schauspielhaus gesehen. Die meisten haben einen tiefen Eindruck hinterlassen, mich zum Nachdenken angeregt, unterhalten, bewegt. Doch die erste Inszenierung, die ich 2022 dort gesehen habe, hat mich vielleicht am meisten angerührt. Mittlerweile habe ich Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ (Premiere am 08.10.2021) in der Regie von Tilmann Köhler viermal gesehen und finde das Stück immer noch sehr bewegend.
Es ist eine einfache Geschichte, die aus dem Jahr 1932 stammt, aber in etwas anderer Form heute immer noch passieren kann, weil es um ganz wesentliche Dinge geht. Eine Frau und ein Mann begegnen sich, verlieben sich, zeugen ein Kind. Beschließen, zusammen zu bleiben, eine kleine Dreiereinheit namens Familie zu bilden. Nur ist diese Familie bedroht, durch soziale Unsicherheit und Armut. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit lauert wie ein Schatten im Hintergrund, schon lange, bevor Hannes Pinneberg tatsächlich seine Stelle verliert und mit seiner Familie letztlich in einer ärmlichen Gartenlaube unterkommt.
In einer sehr eindrücklichen Szene geht er durch den Kleinen Tiergarten, nachdem er gerade eine Stelle in einem Berliner Warenhaus angenommen hat. Doch er kann sich nicht darüber freuen, weil er sich jetzt schon mit den vielen Arbeitslosen identifiziert, die den Park bevölkern. Äußerlich gehört er noch zu den Bessergestellten, trägt einen präsentablen Anzug, hat eine Aktentasche dabei, doch im Inneren fühlt er sich schon jenen zugehörig, die ihre Arbeit, den Anker, der sie in der Mitte der Gesellschaft hält, verloren haben. Und auch bei ihm ist es nur eine Frage der Zeit, bis er die extremen Anforderungen seines Arbeitgebers nicht mehr erfüllen kann und auf der Straße steht.
Der Leistungsdruck, ein sehr moderner Gedanke, wird von Hans Fallada bereits thematisiert. Kaum erfüllbare Verkaufsquoten bilden das Sieb, durch das alle fallen, die ihr Soll nicht schaffen. Fallada hat den Roman vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise angesiedelt, doch viele Elemente finden sich auch in unserer heutigen spätkapitalistischen Gesellschaft wieder. Die Gefahr, aus dem Mittelstand ins soziale Abseits zu geraten, gedemütigt zu werden, sich außen vor zu fühlen, seinen Selbstwert zu verlieren, ist immer noch präsent.
Nun ist die Inszenierung sehr viel weniger trübe, als die Zusammenfassung vielleicht klingt. Sie ist sogar sehr bunt und lebhaft und liebevoll, was die letzte halbe Stunde, in der Hannes Pinneberg endgültig in die Verzweiflung kippt, umso eindringlicher macht.
Kern des Bühnenbilds von Karoly Risz ist ein riesiges Hamsterrad, in dem Emma alias Lämmchen und Hannes rennen, um den Anschluss ans Leben nicht zu verlieren, und das Lea Ruckpaul und André Kaczmarzcyk körperlich viel abverlangt. Doch es ist mehr als eine Tretmühle des Alltags, denn zusammen mit dem schlichten Aufbau dahinter bildet es die ganze Welt des Stückes: die Wohnungen, die Arbeitsplätze, den Ostseestrand, an dem sich die beiden zum ersten Mal begegnen, das Kino und den Nachtklub, in dem sie ein einziges Mal ausgelassen feiern, die Gartenlaube und die Straßen von Berlin, in denen Hannes Pinneberg seine letzte Demütigung erfährt.
Doch nicht nur das Bühnenbild ist reduziert: Sämtliche Figuren werden von drei Darstellenden gespielt. Lea Ruckpaul, André Kaczmarczyk und Sebastian Tessenow wechseln elegant zwischen ihrer eigenen Hauptfigur und allen anderen hin und her, verwandeln sich von einer Sekunde zur nächsten in ihre Väter und Mütter. Das ist oft durchaus komisch, und so gibt es in der ersten Hälfte der Aufführung auch viel zu lachen. Wenn Lea Ruckpaul in die Rolle ihres Vaters schlüpft, der den zukünftigen Schwiegersohn zum Thema Gewerkschaft verhört, oder André Kaczmarzcyk seine moralisch schillernde, in manchen Aufführungen auch leicht beschwipste Mutter darstellt, ist das schon sehr lustig. Die hoffnungsvollen Haushaltskalkulationen auf der Kreidetafel wirken hier noch leicht und unbekümmert; sie sind wie zwei Kinder, die erwachsen spielen.
Doch irgendwann kippt die Geschichte ins Dunkle, Bodenlose, in die Verzweiflung. Für mich liegt der Wendepunkt in der oben erwähnten Szene, in der Hannes von seinem Einstellungsgespräch kommt, oberflächlich betrachtet zufrieden sein müsste, da er nun in der Großstadt Berlin lebt und in einem renommierten Kaufhaus angestellt ist. Doch er wird die Angst nicht mehr los, sie hat in ihm Wurzeln geschlagen und wird immer weiter wachsen. Die Geburt des Sohnes bringt Glück, aber auch eine Verantwortung, die neue Ängste auslöst.
Seine Frau Emma, genannt Lämmchen, ist die optimistischere, stärkere von beiden, die Hannes immer wieder mit sich nach oben zu ziehen versucht. Das schwingt schon in der angedeuteten Hochzeitsszene mit, in der sie die Kleider tauschen. Lämmchen besitzt mehr innere Kraft, verliert aber nie die Achtung vor Hannes. Mehr noch, sie versucht, ihm seine Selbstachtung zu bewahren. In einem sehr bewegenden Moment gegen Ende des Stückes erklärt sie, warum ihr Mann auf gar keinen Fall verbotene Dinge tun soll. Denn sollten sie irgendwann wieder ein besseres Leben führen, würde die Scham darüber wie ein Schatten auf ihm liegen, und genau das will sie verhindern. Jemandem seine Schwäche zuzugestehen, ohne ihn dafür zu verachten, ist sicher ein großer Liebesbeweis.
Sebastian Tessenow als Holger Jachmann ist Emma ein Freund, der sicher zeitweise Hintergedanken hegt, sie sexuell anziehend findet, letztlich aber vor ihrer Liebe zu Hannes kapitulieren muss und ihr dennoch seine Hilfe anbietet.
Als ich das Stück zum ersten Mal gesehen habe, konnte ich mich nicht mehr an das Romanende erinnern. Ich habe sehr um Hannes gefürchtet, dass er aufgibt, nicht mehr den Weg zurück in die Gartenlaube findet, dass Emma vergeblich auf ihn wartet. Dass Jachmann unrecht behält und Hannes sich sehr wohl etwas antut. Umso erleichterter war ich, dass es wenigstens einen Funken Hoffnung gibt, dass Hannes zwar von der Straße gestoßen wurde, aber nicht aus seinem Leben.
Ich kann diese emotionale Inszenierung mit vielen bewegenden Momenten sehr empfehlen. Lea Ruckpaul, André Kaczmarczyk und Sebastian Tessenow überzeugen in jedem Augenblick und haben sich in mein Herz gestohlen. (Fabian)
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Heute ging es an den Ort, an dem Nordsee und Ostsee aufeinander treffen. Ein bisschen touristisch (im Sommer bestimmt schlimm voll), aber so konnte ich eine Runde über die Ostsee an die Nordsee laufen.
Dort habe ich eine "Wanda" in einem top Zustand getroffen bzw. deren Erstbesitzer, die doch tatsächlich mit ihrem T3 schon 8 mal durch Island gefahren sind, das letzte Mal vor acht Jahren. Toll!
Die Vorfreude steigt und der Schiffsfahrt von morgen Mittag bis Sonntag Nacht sehe ich entspannt entgegen. Heute schlafe ich wieder direkt hinter den Dünen an einem ewig langen Ostseestrand mit feinem Sand - wunderschön und deutlich windstiller. So lag ich nachmittags lesend und halbnackt am Stand in einem windgeschützten Eck in der Sonne und habe nochmal ein bisschen Farbe bekommen, bevor es jetzt erstmal kühler wird.
Und natürlich meldet mein Auto nun, dass es in 2000 km einen Ölwechsel wünscht. Solange ich noch in der Garantie bin versuche ich das auf jeden Fall umzusetzen. Also war ich heute noch beim VW-Autohaus in Hafennähe und habe für nach Island einen Termin ausgemacht. Ich fahre ja schon ohne Umwege direkt von hier 1400 km nach Hause.
Jetzt geht hier der Mond auf und wir haben Vollmond.
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Kalender - Historische Bilder aus Norddeutschland 1985 der Vereinsbank (Vereins- und Westbank AG) mit den Inhalten:
- Blick über die Elbe vom hohen Ufer oberhalb Neumühlens, um 1840 - von Joachim Faber
- Uklei-See bei Eutin, um 1810 - von Ludwig Philipp Strack
- Blick auf die Kieler Förde von der Forstbaumschule, um 1830 - von Johann Ludwig Hansen
- Riddagshausen bei Braunschweig um 1850, Jürgen Brandes
- Landschaft bei Stade, 1831 - von Johann Wilhelm David Bantelmann
- Blick von Stöfs bei Gut Waterneversdorf auf die Hohwachter Bucht/Ostsee, um 1861 - von Heinrich Louis Theodor Gurlitt
- Windmühlen in der Wilstermarsch bei Schotten, 1911 - von Friedrich Kallmorgen
- Blick vom Stemmer Berg auf Leveste und den Deister, um 1830/40 - vermutlich von Justus Elias Kasten
- Die Elbe bei Blankenese, 1844 - von Adolf Friedrich Vollmer
- Heidelandschaft mit Schafen, 1852 - von Fransois Auguste Ortmans
- Fischer am Ostseestrand, 1837 - von Johann Jacob Gensler
- Gut Neuerstaven bei Oldesloe, 1857 - von Otto Speckter
- Strand auf Sylt, 1873 - von Hinrich Wrage
- Landschaftsmalerei in Deutschland im 19. Jahrhundert
Maße: 33 x 29 cm
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Nix wie weg: Nix wie weg Silvesterflucht in die Ruhe
Die JF schreibt: »Wenn aus der Stadt zum Jahreswechsel ein Kriegsgebiet wird, zieht es viele in die Natur. Ob Ostseestrand, Naturschutzgebiet oder Berg: Silvester läßt sich friedlich verbringen. Und Tradition hat das Ganze auch noch.
Dieser Beitrag Nix wie weg Silvesterflucht in die Ruhe wurde veröffentlich auf JUNGE FREIHEIT. http://dlvr.it/T0mMc8 «
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